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Als Zecke Neu­en­dorf im März 2000 den Rasen des Camp Nou betritt, steht es 2:1 für Bar­ce­lona. Ich wusste gar nicht, was wir da sollten. Wir hatten gegen Bar­ce­lona gefühlt fünf Pro­zent Ball­be­sitz“, erin­nert sich Neu­en­dorf. In der siebten Minute hatte Carles Puyol einen Moment lang Alex Alves aus den Augen ver­loren und die Hertha führte mit 1:0. Ganze vier Minuten lang. Xavi glich schnell aus. Am Ende gewinnt Bar­ce­lona mit 3:1. Ich dachte, als es vorbei war, nur: Ey krass, wie geht denn das? Ich habe viel­leicht einmal den Ball berührt.“ Ein Spiel, das für die meisten Profis ein Kar­rie­re­high­light gewesen wäre, bedeutet dem Ber­liner kaum etwas: Die Cham­pions League habe ich nie so sehr gemocht, da war mir sogar der Liga­pokal lieber.“ Wenn Zecke an seine Lieb­lings­spiele denkt, denkt er nicht an die Cham­pions League, nicht an das Camp Nou, nicht an das San Siro. Wenn er an seine Lieb­lings­spiele denkt, dann denkt er an seine Heimat: Als ich in den Kata­komben vom Olym­pia­sta­dion stand, die Leute gehört habe, wie sie Nur nach Hause“ singen, die letzten zehn Meter ging, dann Klack-Klack-Klack, die Treppe hoch: Das ist abso­lute Gän­se­haut.“

Neu­en­dorf war ein ehr­li­cher Spieler. Einer, der Fuß­ball arbei­tete und der immer alles gab, selbst auf der Bank. Und dort saß er nicht selten. Oft war er ver­letzt, oft waren andere ein­fach talen­tierter, doch Zecke meckerte nicht: Ich war Zehner, aber ich hatte immer bes­sere Spieler vor mir: Bernd Schuster, Zé Roberto, Paulo Sergio, Wosz, Bas­türk, Mar­cel­inho… Aber ich habe es immer allen gegönnt. Ich hatte nie den Ein­druck, dass das Spiel besser für uns laufen würde, wenn ich anstatt Mar­cel­inho spielen würde.“ Zecke inter­pre­tierte seine Posi­tion anders als die Künstler. Die Grät­sche gehörte zum Grund­re­per­toire des offen­siven Mit­tel­feld­spie­lers. Nicht nur, um zu ver­tei­digen, son­dern auch, um Zei­chen zu setzen. In seiner Kar­riere bekam er 114 Gelbe Karten und wurde sieben Mal vom Platz gestellt. Zecke selbst bezeichnet sich als den idealen zwölften Mann. Als jemanden, den der Trainer immer bringen könne und dann Vollgas gebe. Ich war immer heiß, wenn ich auf der Bank saß. Wenn ich dann ein­ge­wech­selt wurde, gaben mir die Schiris direkt ne Gelbe – damit sie von mir ihre Ruhe hatten.“ Kampf, Team­geist und Ber­liner Schnauze. So wurde er in seiner Geburts­stadt zur Legende.

Chris­toph Daum hatte noch nie mit so einem Bekloppten gear­beitet.

Doch seine Pro­fi­kar­riere begann weit weg von zu Hause. Reiner Cal­mund holte Anfang der Neun­ziger jedes Jahr viel­ver­spre­chende Jugend­spieler nach Lever­kusen und stat­tete Sie mit Pro­fi­ver­trägen aus. 1994 war ein 18-Jäh­riger dabei, der damals noch auf den Namen Andreas hörte. Heute nennt mich nur noch eine Person auf der Welt so: meine Mutter – wenn ich was aus­ge­fressen habe“ , sagt Zecke. In Lever­kusen machte er schnell Ein­druck. Am ersten Tag setzte er sich in der Kabine auf den Platz von Bernd Schuster, dem wohl größten deut­schen Fuß­baller zu dieser Zeit. Die Mit­spieler sagten ihm, wessen Platz das war, doch der Neue blieb sitzen. Als Schuster reinkam, gab Zecke doch nach, sagte, er habe ihm den Sitz nur warm gehalten. Mit seiner Art fand er schnell seinen Platz – in der Kabine, im Kader und schließ­lich auch in der Startelf. Und er bekam nach einem Zecken­biss seinen neuen Namen. Ich hatte eine gute Zeit in Lever­kusen. Ich hatte ein Haus mit Par­ty­keller und Swim­ming Pool. Wenn wir ein Spiel gewonnen haben, kam die Mann­schaft zu mir zum Feiern“ , sagt er.

In dieser Zeit konnte Zecke oft feiern. Lever­kusen gewann häufig, wurde 1997 unter Chris­toph Daum Vize­meister. Doch Trainer und auf­stre­bender Profi stritten sich. Ich war ein junger, wilder Ber­liner, hatte einen Dach­schaden. Heute würde ich mich mit Chris­toph Daum gut ver­stehen. Aber er hatte wohl noch nie mit so einem Bekloppten gear­beitet, der glaubt, einem erfah­renen Trainer sagen zu müssen, wie es richtig geht.“ Also spielte Zecke immer weniger. Irgend­wann kam Cal­mund zu ihm und sagte, man werde ihn ver­leihen. Ich war damals jung, spielte U21, hätte in der Bun­des­liga wohl überall hin­gehen können, auch nach Ita­lien, oder was weiß ich. Aber ich bin hei­mat­ver­bunden. Ich wollte nur zurück nach Berlin.“ Drei Jahre dau­erte seine Leihe zur Hertha. Er habe damals alles ver­sucht, um in Berlin zu bleiben, sagt er. Als er doch zurück nach Lever­kusen musste, wurde mit Ban­nern ver­ab­schiedet – obwohl er wegen Ver­let­zungen nur 30 Spiele gemacht hatte.

Im Dezember 2000 ist die Hertha zu Gast in der BayA­rena. Für Zecke ein Kon­flikt mit seinem Gewissen: Ich hab Berti Vogts gesagt, dass ich nicht spielen will, aber er hat mich trotzdem auf­ge­stellt“ . Er wird von der Hertha-Kurve gefeiert. Beim Warm­laufen, wäh­rend des Spiels, und auch als er beim Stand von 4:0 aus­ge­wech­selt wird. Die haben ne Klat­sche kas­siert und mich trotzdem gefeiert? Das war der Moment, in dem ich wusste, dass die Hertha mein zu Hause ist und ich nie wieder gegen den Verein spielen werde“, so Zecke.

Im Rück­spiel in Berlin wird sein Ver­spre­chen auf die Probe gestellt. 33. Spieltag: Hertha ist Fünfter, Lever­kusen Vierter – ein Punkt Abstand, der die Teil­nahme am Uefa-Cup bedeutet. Neu­en­dorf sagt, Vogts wollte ihn von Anfang an spielen lassen. Er wei­gerte sich. In der zweiten Halb­zeit, als Lever­kusen 0:1 zurücklag, kam Vogts wieder zu Neu­en­dorf: Er sagte zu mir: Ok, mach dich fertig. Ich hab nur gesagt: Auf keinen Fall spiel‘ ich. Hier? Bei der Hertha? Mach ich nicht!“ Das Spiel endete 1:1. Zecke blieb auf der Bank, Hertha bekam in der neuen Saison keinen Platz in Europa, doch dafür bekamen die Fans ihren Lieb­ling zurück. Zecke wech­selte 2001 wieder nach Berlin.

Abschied von den Fans

Es läuft die 89. Minute beim Spiel Hertha BSC gegen Erz­ge­birge Aue. Ein kalter Tag im Dezember 2010. Her­thas spielt nicht mehr Cham­pions League, son­dern Zweite Liga. Das Spiel ist längst ent­schieden, ein Schuss landet im Nir­gendwo und doch – in der Kurve jubeln sie, umarmen sich und klat­schen sich ab. Denn an der Außen­linie steht ein 35-Jäh­riger zur Ein­wechs­lung bereit. Rote Haare, fre­ches Grinsen. Drei Minuten darf er für seine Hertha noch einmal sprinten, grät­schen, Bälle ver­teilen – begleitet von einem lauten, ein­stim­migen: Aléz, Zecke Neu­en­dorf, Aléz!“. Markus Babbel hatte den Mann, der eigent­lich seine Kar­riere in der zweiten Mann­schaft aus­klingen lässt, noch einmal nomi­niert, damit sich die Fans von ihm ver­ab­schieden können.

Als die Mann­schaft nach dem Spiel in die Kurve geht, for­dert das Sta­dion Zecke. Doch erst als ihn ein Mit­spieler nach vorne schubst, nimmt er das Mikrofon: Erstmal muss ich sagen: Danke. Danke. Aber schaut euch diese Männer an! Die bringen uns wieder in die erste Liga, das sind unsere Jungs!“ Zecke wollte nicht im Mit­tel­punkt stehen. Er will, dass das Licht auf die fällt, die es ver­dienen.

Er spielte, bis er 39 war, wollte ein­fach nur Fuß­ball spielen. Am liebsten für die Hertha. Wie es danach wei­ter­gehen sollte, wusste er lange nicht. Beim BFC Preußen hatte er 2014 die Mög­lich­keit, sich als Trainer aus­zu­pro­bieren. Zusammen mit seinem Kumpel Levent Selim über­nahm er den Lan­des­li­gisten und wurde auf Anhieb Meister. Trainer sein war gut, Trainer bei der Hertha sein noch besser. Also ging er zurück zu seinem Verein, in den Nach­wuchs­be­reich. Dort trai­nierte er zunächst die U15, seit ver­gan­genem Jahr die U17. Die Jungs geben mir unglaub­lich viel. Es ist zu 100 Pro­zent erfül­lend“ , sagt Zecke. Die sind so wahn­sinnig ehr­lich und gehen für dich durchs Feuer, wenn du auch ehr­lich zu ihnen bist.“

Der Mann, der früher gelbe Karten sam­melte, soll heute Jugend­li­chen nicht nur das Fuß­ball­spielen bei­bringen, son­dern auch Vor­bild sein. Wie gut das funk­tio­niert, sieht man nicht nur daran, dass Zecke mit der U15 das Double holte und die U17 der­zeit Tabel­len­erster in der B‑Junioren Bun­des­liga Nord/​Nordost ist. Zecke gewann im ver­gan­genen Jahr auch noch die DFB-Fair-Play-Medaille für sein soziales Enga­ge­ment. Im Jahr zuvor bekam Jonas Michel­brink, einer seiner Spieler, die Aus­zeich­nung. Mir ist wichtig, dass wir für etwas stehen. Wenn wir einen unbe­rech­tigten Elfer bekommen, wissen die Spieler was zu tun ist. Wenn einer trotzdem fra­gend zu mir schaut, schüttel‘ ich den Kopf. Wir schieben dann den Ball mit der Sohle in Rich­tung Eck­fahne. Wir wollen gewinnen – aber ehr­lich“ , sagt Neu­en­dorf.

Die können mich auch Hans-Jürgen nennen“

Der­zeit hat er nur eine Trainer-A-Lizenz. Bald will er den Schein zum Fuß­ball­lehrer machen – damit dürfte er dann Profi-Mann­schaften trai­nieren. Ich kann mir vor­stellen, dass ich irgend­wann bei einem Bun­des­li­gisten im Trai­ner­team bin. Aber ich bin ja bio­lo­gisch gesehen erst 22, auch wenn ich ausseh‘ wie 25. Ich hab noch genug Zeit“ , sagt der 43-Jäh­rige.

Den Mann, den alle Zecke“ nennen, spre­chen seine Spieler übri­gens schlicht mit Trainer“ an. So hatte er es sich zu Beginn von der Mann­schaft gewünscht. Manchmal rutscht dem ein oder anderem doch mal ein Zecke raus. Aber eigent­lich ist mir das egal – wenn sie zuhören und mir glauben, können sie mich auch Dieter, Hans-Jürgen oder Jochen nennen.“ Solange sie eben nicht Andreas sagen – das darf nur Mutter.