Wolfgang Großmann war in der DDR eingesperrt und wurde auch wegen Borussia Mönchengladbach zum Rebell. Zum Tag der deutschen Einheit: Eine Geschichte über Liebe, Treue und Grenzerfahrungen.
Längst versucht er, die DDR verlassen zu können. Den Unrechtsstaat, der sich nicht zu schade ist, selbst mit den perfidesten und perversesten Methoden zum Ziel zu gelangen. „Einmal drohten sie meiner Frau mit dem Gefängnis und der Zwangsadoption meines Sohnes“, erinnert sich Wolle.
Ein anderes Mal muss er einen ganzen Tag lang in einem Flutbunker in der Dresdener Stasizentrale ausharren: „Ich hockte in einem Raum aus Beton, von außen hörte man das Wasser der Elbe, oben schwappte es über die Wand. Da dachte ich das erste Mal: Ob du hier jemals wieder raus kommst?“ Bereits 1976 hatte er den ersten Ausreiseantrag gestellt. Alle zwei Wochen wiederholt er diesen Akt, jedes Mal ohne Erfolg.
Also geht Wolle weiter zum Fußball. Auch dann, als es seinen Bundesliga-Fanklub nicht mehr gibt. Auch dann, als er ein Stadionverbot bei Dynamo kassiert. 1981 ist er beim Spiel von Dynamo in Jena. Vor einer Kneipe stehend, wie immer in seinem Gladbacher Erdgas-Trikot der Borussia, stürzt plötzlich ein Jenenser auf ihn zu. „Ich ging in Angriffsstellung. Da sprang mir der Kerl in den Arm und rief: ›Ein Gladbach-Fan!‹“ Aus Steffen Andritzke und Wolfgang Großmann werden die besten Freunde.
Kartenspiel mit Lothar Matthäus
Andritzke hat eine ähnliche Biografie. Dank der „Sportschau“ verguckt sich der Junge aus Jena in die Borussia, geht fortan mit selbst gebastelter Gladbach-Kutte zu den DDR-Oberliga-Spielen, gerät regelmäßig mit der Stasi aneinander und schließt sich der gewaltbereiten Fanszene an. Steffen und Wolle gründen den „Borussia Fanclub in ewiger Treue Dresden-Weimar“.
Im Westen weiß man von den Verrückten aus der Zone, die sich für die Liebe zu den Fohlen von der Geheimpolizei drangsalieren lassen. Auch weil sie gemeinsam mit anderen Gleichgesinnten für unvergessliche Storys sorgen. Wie 1981 beim UEFA-Cup-Spiel der Gladbacher in Magdeburg, als es Wolle gelingt, im Teamhotel der Westdeutschen die Stasi-Wachen auszutricksen und in eines der Zimmer zu schlüpfen: „Da saßen Armin Veh und Lothar Matthäus und spielten Backgammon.“
Eine Dreiviertelstunde unterhält sich Wolle mit seinen Helden und bekommt zum Abschied ein Kartenspiel geschenkt. 1983 schafft es der Fanklub gar, eine extra für Gladbachs Jungstar Lothar Matthäus angefertigte Porzellan-Ballerina in den Westen schmuggeln zu lassen. Vor dem ersten Spiel der Saison 1983/84 wird Matthäus die Trophäe auf dem Rasen im Bökelberg-Stadion überreicht, er schickt den Ostdeutschen einen Dankesbrief.
Drei Tickets nach Frankfurt
Für Wolle und Steffen sind das unvergessliche Momente. Aber sie sind noch immer Gefangene in ihrem eigenen Land. Ende 1984 geht es bei Wolle dann plötzlich ganz schnell. Er bekommt Post von den Behörden und muss Unterlagen einreichen, die beweisen, dass er der DDR im Falle einer Ausweisung keinerlei Schulden hinterlässt.
Im Januar 1985, den Tag hat Wolle kurioserweise vergessen, wird er gemeinsam mit seiner damaligen Frau und dem Sohn um sieben Uhr morgens in die Stasizentrale bestellt. Und erhält die erste und letzte akzeptable Anweisung der Geheimpolizei: „Sie haben 24 Stunden Zeit, die DDR zu verlassen.“ Am Bahnhof kauft er sich drei Tickets erster Klasse nach Frankfurt am Main, steigt mit seiner Familie, zwei Koffern und einem Schuhbeutel ein und beendet das Kapitel DDR, als wäre das hier nur die nächste Auswärtsfahrt nach Zwickau oder Magdeburg.