Sein Vater nahm Drogen, seine Mutter hatte psychische Probleme. Er selbst überlebte einen Autounfall nur knapp, seitdem ist sein rechtes Bein kürzer. Wie konnte Charlie Davies Fußballprofi werden?
Was jedoch kaum jemand an der Schule ahnte, war die schwierige Situation zu Hause. Der Vater trank und nahm Drogen. Die Mutter litt an psychischen Problemen. Also musste Davies sich um seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Justin kümmern. Mit der Zeitung „USA Today“ sprach er über die Zeit: „Als ich aufwuchs war ich Vater, Mutter und Bruder gleichzeitig. Für ein Kind war das viel Druck auf meinen Schultern.“
Statt in der Schule Hilfe zu suchen, versuchte Davies die Probleme zu verstecken. „Von meinen Freunden wusste keiner Bescheid. Ich habe das immer für mich behalten.“ Es gab Zeiten, in denen Davies und sein Bruder Lebensmittel von Fremden vor dem Supermarkt annehmen mussten. Selbst für einen Teenager gibt es wohl nur wenige Dinge, die unangenehmer sind. Doch er betont auch, dass trotz aller Widrigkeiten, seine Eltern immer da waren. Sein Vater kam zu jedem Spiel und seine Mutter holte ihn und Justin jeden Tag von der Schule ab. „In vielerlei Hinsicht hatten wir Glück“, sagt er.
„Man kann die Vergangenheit nicht verändern“
Trotz allem wagte Davies nach seiner Zeit am Boston College den Schritt nach Europa. 2007 wechselte er nach Schweden zu Hammarby IF, wo er in 62 Spielen 24 Tore schoss. Zwei Jahre später ging es nach Sochaux, doch glücklich wurde Davies dort nie. Zwischendurch musste er sogar in die Reservemannschaft.
In den Monaten nach dem schweren Unfall schuftete Davies täglich für sein Comeback. Die Nacht in Washington hatte er schnell hinter sich gelassen: „Von Tag eins war es: Okay, das ist passiert. Man kann die Vergangenheit nicht verändern, alles was man tun kann ist daraus zu lernen und weiter zu machen. Und ich konnte nur weiter machen, indem ich wieder aufs Feld bin.“ Doch obwohl er sich ein halbes Jahr später fit fühlte, untersagten die Klubärzte die medizinische Freigabe für die Weltmeisterschaft in Südafrika. Der Höhenflug war endgültig vorbei.
Die folgenden vier Jahre glichen einer Odyssee. Nahezu jedes Jahr ein neues Leihgeschäft. Von Sochaux ging es über D.C. United nach Dänemark zu Randers FC, bis er schließlich wieder in der MLS bei New England Revolution landete. Auch in der Heimat dauerte es seine Zeit, bis Davies wieder Fuß fassen konnte.
„Als er 2013 zu uns kam, hat er es gerade so in den Kader geschafft“, erzählt Cheftrainer Jay Heaps beim Klubsender von New England Revolution. Doch mit der Zeit wurde Davies Rolle in der Mannschaft immer wichtiger. Er fand zu alter Stärke und wurde auch abseits des Platzes für Heaps immer wichtiger: „Als wir letztes Jahr in einem Loch waren, war Charlie der erste, der unsere Jungs motivieren konnte da rauszukommen.“
Comeback in der Nationalelf?
Vergangenes Jahr schafften es die Neuengländer zum ersten Mal seit 2007 wieder ins MLS-Cup-Finale. Zwar verlor das Team gegen L.A. Galaxy, doch Davies scheint den richtigen Verein gefunden zu haben. Aufgewachsen im nur eineinhalb Stunden Autofahrt entfernten Manchester wurde der bullige Stürmer für die Fans der „Revs“ schnell zum Lokalhelden. In der vergangenen Saison sprach Davies auf einer Pressekonferenz erstmals von den privaten Problemen in der Jugend. „Ich wollte den Leuten mit ähnlichen Problemen einfach zeigen, dass man es trotzdem schaffen kann“, sagte er danach.
Und nach fast sechs Jahren Leidenszeit kommt auch die alte Form zurück. Mit zehn Toren war Charlie Davies diese Saison der Toptorjäger der Mannschaft. Während sein Teamkollege Jermaine Jones einige Mühe hatte, das unglückliche Playoff-Aus gegen D.C. United zu verkraften, blieb Davies keine Zeit zu trauern. Denn er steht vor seiner vielleicht besten Saison. Er ist körperlich und geistig wieder auf dem Level, auf dem er vor seinem Unfall war. Sich selbst sieht der 29-Jährige sogar noch ein Stückchen besser als damals, wie er im „Boston Globe“ verriet.
In der Qualifikationsgruppe für die WM 2018 in Russland hat die Mannschaft von Jürgen Klinsmann Probleme. Gegen Trinidad und Tobago spielte sie nur 0:0. Die Fans fordern einen treffsicheren Stürmer. Einen wie Charlie Davies. Der machte im letzten regulären MLS-Spiel Ende Oktober gegen New York City ein Tor und bereitete ein weiteres vor.