Am 9. Oktober 2019 tötete ein rechtsextremer Attentäter zwei Menschen in Halle. Einer von ihnen war Fan des Halleschen FC. Wie hat sich der Verein seit dem Anschlag verändert?
Der Text erschien erstmals in Ausgabe #219. Das Heft ist im Shop erhältlich.
Wehrlos stand Kevin S. im Dönerladen, als der Attentäter schoss. Das Leben des 20-Jährigen endete auf dem Boden eines Imbisses in Halle. Er war Fan des Halleschen FC und er ist das zweite Opfer an diesem Tag. Sichtbar sind die Spuren des Anschlags bis heute. Direkt neben der Eingangstür des Dönerladens ist die Scheibe von einem Projektil zerschossen worden und noch immer nicht repariert, durch das feine Loch lässt sich auf die Kasse blicken.
Am anderen Ende des Raumes haben Trauernde einen Altar zum Gedenken an die Ermordeten errichtet. Dort hängen Schals des Halleschen FC, HFC-Sticker und Wimpel. Auf einem Shirt des HFC stehen Unterschriften: Vincent, Flo, Swantje – und etwa 50 weitere. Da liegt ein Herz aus Holz, „Ich liebe dich“ eingraviert. Ein Trikot mit den Namen der zwei Verstorbenen, Rückennummer: unendlich. Ein zur Blume gefalteter 20-Euro-Schein liegt zwischen den Kerzen. Es ist eine groteske Szenerie. Vor dem Altar macht ein Gast gerade ein Foto von seinem Fleischteller. Er sitzt ziemlich genau dort, wo Kevin S. gestorben ist. Dieser Ort ist keine Trauerhalle. Aber hier ist der Mord geschehen, also wollen die Menschen einem Gefühl Ausdruck verleihen für eine Tat, die unerklärlich ist. Die Hintergründe des Attentats von Halle kennen viele, die jüdische Gemeinde bittet mittlerweile um Ruhe. Doch was ist seitdem geschehen? Denn die Tat ist in der Stadt, am Imbiss, noch immer präsent. Der letzte Eintrag im Kondolenzbuch ist nur zwei Tage alt. Jemand hat geschrieben: „Ein Döner auf euch.“
Der Imbiss ist zur Trauerhalle geworden.
Einen Döner will Kevin S. am 9. Oktober 2019 auch haben. Der Maler und Lackierer macht gerade Mittagspause, das wird ihm zum Verhängnis. Gegen 12 Uhr hat der Attentäter Stephan Balliet versucht, die Synagoge in Halle anzugreifen. Er will Juden töten, aber er scheitert bereits an der Eingangstür beim Versuch, die Synagoge zu stürmen, in der sich 51 Personen befinden. Mindestens elf Schüsse gibt er ab, aber die Tür hält. Auch hier sind die Löcher noch immer sichtbar. Wahllos erschießt der Attentäter deshalb die Passantin Jana L., ehe er mit seinem Wagen die Straße hinunter zum „Kiez Döner“ fährt und dort auf Kevin S. trifft. Ihn erschießt. Nach einem Schusswechsel mit der Polizei flüchtet Balliet.
Zu diesem Zeitpunkt steht Terrence Boyd nur 250 Meter vom Tatort entfernt eng an eine Wand gepresst in einem modernen Café, das „The Shabby“ heißt. Der Besitzer hatte die Schüsse gehört. Wer aus dem Café tritt und den Hügel hochblickt, kann ganz oben den Döner-Imbiss erkennen. Boyd ist Stürmer des Halleschen FC, er hatte sich für ein Interview verabredet, er mag hier das Rührei mit Sucuk. „Wir saßen am Fenster und sahen ein Polizeiauto vorbeifahren, die Sirene war eingeschaltet. Es war aber nur eins – und das passiert ja jeden Tag irgendwo“, erinnert sich Boyd. „Auf einmal kommt der Besitzer hoch und ruft: ‚Alle weg vom Fenster!‘ Und alle so: ‚Häh?‘“
Die Gäste stehen möglichst weit weg von den Fenstern, suchen im Internet nach Updates. Aber die Situation ist unklar. Sind es mehrere Täter? Wohin fährt der Mann, der geschossen hat und jetzt flüchtet? Boyd schreibt mit seiner Frau, die hochschwanger in Leipzig auf ihn wartet. „Wir wohnen direkt an einer Autobahnausfahrt“, sagt er als Erklärung, warum er um seine Familie fürchtet. An einem Tag, an dem zwei Deutsche sterben, weil ein Antisemit auf der Straße wahllos Menschen erschießt, wirkt das plötzlich bedrohlich: wohnen an einer Autobahnausfahrt. Boyds Frau holt das zweite Kind aus der Tagesstätte. Als die Polizei nach einer halben Stunde die Straße für sicher erklärt, sprintet Boyd von der Bar zu seinem Auto. Den Kopf immer unten, auch noch, als er am Steuer sitzt und zurück zum Gelände des HFC fährt. „Wir hatten ja Training.“