Uhr weg, Hymne weg. Und auch die sportliche Führung hat der HSV ausgetauscht. Statt auf verklärte Traditionspflege will der Klub künftig auf hanseatisches Understatement setzen – oder es zumindest versuchen, denn da ist ja immer noch Klaus-Michael Kühne.
Rückblick
Wer dachte, mit dem ersten Bundesliga-Abstieg der Vereinsgeschichte hätte der Hamburger SV seinen Tiefpunkt erreicht, unterschätzt die Fähigkeit dieses Klubs, sich bei der eigenen Demontage immer wieder selbst zu übertreffen. Mit Christian Titz und Hannes Wolf verbrannte der Verein in der vergangenen Saison gleich zwei aufstrebende Trainer. Mit dem 0:5 gegen Regensburg kassierte er die höchste Heimniederlage der Vereinsgeschichte. Und mit einer katastrophalen Rückrunde verspielte der HSV schließlich den Aufstieg, obwohl er die Hinrunde noch als Herbstmeister beendet hatte. Nun steht der Verein vor einem Neuanfang. Wieder einmal. Mit norddeutscher Bescheidenheit soll nun alles besser werden.
Transfers
Die Stadionuhr und Lotto King Karl mit seiner Perle dürften die namhaftesten Abgänge dieses Sommers sein. Aber auch im Kader schnitt der Klub alte Zöpfe ab und trennte sich von altgedienten Spielern wie Pierre-Michel Lasogga und Lewis Holtby. Zudem spülte der Verkauf von Douglas Santos an Zenit St. Petersbug rund zwölf Millionen Euro in die Kasse. Mit Tim Leibold, Ewerton (beide Nürnberg), David Kinsombi (Kiel), Jan Gyamerah (Bochum), Jeremy Dudziak (St. Pauli), Sonny Kittel (Ingolstadt) Daniel Heuer Fernandes (Darmstadt) und Adrian Fein (zuletzt von Bayern an Regensburg ausgeliehen) bediente sich der HSV ausgiebig bei der Zweitliga-Konkurrenz. Auch im Sturm setzen die Hanseaten auf einen echten Zweitliga-Experten: In den letzten beiden Spielzeiten traf Lukas Hinterseer für den VfL Bochum jeweils zweistellig.
Boss-Level
„Sie können es jetzt aufschreiben: Hannes Wolf ist in zwölf Monaten noch Trainer des HSV“, sagte Hamburgs Sportvorstand Ralf Becker auf der Mitgliederversammlung des Vereins im Januar. Nicht einmal sechs Monate später sind nun Beide Geschichte beim HSV. Denn nicht nur der Kader, auch die sportliche Führung blieb vom erneuten Hamburger Umbruch nicht verschont. Statt des emotionalen Hannes Wolf soll nun der sachliche Dieter Hecking den Verein mit all seiner Erfahrung, Souveränität – und vor allem Ruhe – zum Aufstieg führen. Den erst vor der vergangenen Saison mit viel Vorschusslorbeeren aus Kiel gekommenen Ralf Becker berief der Aufsichtsrat ab und installierte stattdessen Jonas Boldt. Ähnlich wie Hecking ist auch Boldt Realist. Die Erfüllung seines Zwei-Jahres-Vertrags, so der ehemalige Leverkusener, wäre definitiv „ein großer Erfolg“ – auch für Bernd Hoffmann. Der Vorstandsvorsitzende, der im munteren Hamburger Stühlerücken zuletzt auch schon die Posten von Vereinspräsident und Aufsichtsrat bekleidet hatte, verkündete nach dem verpatzten Aufstieg: „Wir sind seit Jahren im permanenten sportlichen Krisenmodus, der immer im Austausch einzelner Personen endet. Das macht es kurzfristig besser, aber hat dauerhaft keinen Effekt gehabt.“
Umfeld
Was sich die Fans nach der sportlich enttäuschenden letzten Saison von ihrem Verein wünschen? Vor allem einen HSV, „der Haltung zeigt und wieder in allen Bereichen eine Identität entwickelt, die authentisch ist.“ So formulierte es Tim-Oliver Horn, Abteilungsleiter des HSV Supporters Club in einem offenen Brief an den Verein, in dem er den HSV für seine rückwärtsgewandte Außendarstellung kritisiert. Stichwort Uhr. Stichwort „Hamburg meine Perle“, der Vereinshymne, in der immer noch internationale Auswärtsfahrten besungen werden und in der für Bremen im Volkspark „nichts zu holen“ ist. Die Klubführung scheint die Zeichen der Zeit erkannt zu haben: Uhr und Hymne wurden kurzerhand abgeschafft. Gesunkene Ansprüche bei den Fans, hanseatisches Understatement, ein Trainer der für seriöse Arbeit steht – versucht der HSV da etwa gerade tatsächlich, das Image des Chaosklubs loszuwerden? Könnte man meinen. Doch zum Glück für den Unterhaltungsfaktor hat der Klub mit Klaus-Michael Kühne immer noch einen launischen Investor an der Backe. Der wurde seiner Rolle erst unlängst wieder gerecht, als er den Kader in der „Zeit“ als „zusammengewürfelten Haufen“ bezeichnete.
Trikot
Uhr und Perle sind weg. Doch zumindest beim Trikot setzt der HSV auf Altbewährtes: Im heimischen Volksparkstadion treten die Hamburger wie gewohnt in roten Hosen an. Das dazugehörige Trikot kommt in klassischem Weiß daher, ein blau-schwarzer Längsstreifen soll an das Auswärtstrikot der Saison 1970/71 erinnern. Apropos Auswärtstrikot: Nach 1977/78 und 2016/17 läuft der HSV mal wieder in Pink auf. War das modische Verbrechen in der Siebzigern noch zur Erschließung neuer, weiblicher Zielgruppen gedacht („Diese Farben gefallen Frauen“, so der damalige HSV-Manager Peter Krohn), sorgte bereits dessen Neuauflage rund vierzig Jahre später bei einigen Fans für Verärgerung („Wir finden es scheiße, dass unsere Trikotfarbe sich nach marketingstrategisch günstigen Farben richtet“, so der Förderkreis Nordtribüne damals in einer Stellungnahme). Neben dem Investor könnte also auch der neue extravagante noch Dress dafür sorgen, dass es beim HSV nicht zu bodenständig oder gar langweilig zugeht.
11FREUNDE-Prognose
Dieter Hecking als Trainer, zweitligaerfahrene Neuzugänge im besten Fußballeralter anstatt großer Namen und ein selbst verpasster Imagewandel – der HSV schickt sich doch tatsächlich an, zu einem ganz normalen Zweitligaklub zu werden. Und tatsächlich könnte diese Konstellation genau das sein, was der Verein inklusive seines hypernervösen Umfelds so dringend benötigt, um eine stabile Saison zu spielen. Aufgrund der starken Konkurrenz reicht es allerdings nicht für einen direkten Aufstiegsplatz. Stattdessen muss der HSV in die Relegation. Aber wenn es einen Verein gibt, der weiß, wie man sich dort durchsetzt, dann ja wohl den Hamburger Sport-Verein!