Jürgen Klopp hört im Sommer bei Liverpool auf. In England hat er seine Karriere vergoldet. Sein größter Verdienst? Die Menschen gönnen es ihm.
Als es im Sommer 2020 endlich vollbracht war mit der frühesten, spätesten Meisterschaft der Premier-League-Geschichte, da machte Jürgen Klopp einmal mehr Jürgen-Klopp-Sachen. Sachen, wegen derer die Menschen ihn so abgöttisch lieben, in Liverpool und eigentlich auch in so ziemlich jedem anderen Winkel dieser Welt. Klopp war live auf Sendung, der englische Bezahlsender Sky Sport hatte ihn zugeschaltet, und er sollte jetzt Worte finden für das, was da gerade passiert war. Für die erste Meisterschaft von Liverpool seit 30 Jahren, für die Gefühle, die dieser Titel in ihm ausgelöst hatte, er sollte erzählen über den frühesten Saison-Zeitpunkt und das späteste Datum, an dem eine Meisterschaft in England je feststand (es waren die alle Pläne über den Haufen werfenden Corona-Jahre) und über die besonderen Umstände, aufgrund derer all das nun ausgerechnet in der Fußballparty-Metropole Liverpool zunächst ohne Fußballparty verarbeitet werden musste.
Und Klopp? Stand da, im Trikot seiner Mannschaft, als sei er ein Fan des Liverpooler Wunders und nicht dessen Erschaffer, die Wangen gerötet, der Blick schon etwas bierselig, und kämpfte mit den Tränen. Immer wieder rieb er sich die Augen. Um sich dann, im Moment seines wohl größten Triumphes in einer an großen Triumphen ja nicht armen Karriere, zunächst mal aufrichtig beim ebenfalls zugeschalteten Kenny Dalglish und bei Steven Gerrard zu bedanken. Weil dieser Titel auch den beiden größten Liverpool-Legenden gehöre. „In dem Wissen, wie sehr du, Kenny, uns unterstützt hast, ist dieser Titel natürlich auch für dich. Zumal du so lange darauf hast warten müssen, dass dein Verein die Meisterschaft wieder gewinnt. Und für Stevie ist der Titel ebenfalls, der ja auch ewig warten musste. Dieser Erfolg ist auf deiner Seele erbaut, Kenny, und auf der Legacy von Stevie. Die Jungs bewundern euch, für mich ist es leicht, sie zu motivieren, bei einer so großen Klubgeschichte.“ Jürgen-Klopp-Outfit. Jürgen-Klopp-Gefühle. Jürgen-Klopp-Sätze. Jürgen-Klopp-Sachen. Schnüff.
Es gibt wohl keinen Fußballtrainer, der gleichzeitig so erfolgreich und so beliebt ist wie Jürgen Klopp. Mit Liverpool ist er seit 2015 englischer Meister geworden, Champions-League-Sieger und Klubweltmeister. Er hat talentierte Spieler wie Trent Alexander-Arnold oder Andy Robertson zu überragenden Spielern geformt, vermeintlich fertige Fußballer wie Mo Salah, Sadio Mané, Virgil van Dijk oder Roberto Firmino wurden unter Klopp zu den besten Spielern dieser Welt. Er ist mit seiner Mannschaft zunächst gescheitert, in der Europa League, im Duell mit Manchester City, im Champions-League-Finale. Dann hat er sie punktuell verbessert. Und alles abgeräumt. In manchen Spielen kam sie der Perfektion gefährlich nah. Nach etwas holprigen Jahren steuert sein Team jetzt, im Frühjahr 2024, auf die nächste Meisterschaft zu. Und all das, ohne langweilig zu werden, ohne die großen, für den Fußball sinnstiftenden Momente des Überschwangs, die Last-Minute-Tore und unerwarteten Aufholjagden, auszulassen.
Seine vielleicht größte Errungenschaft dabei: Fans auf aller Welt gönnen ihm den Erfolg. Natürlich ist er nicht so stinknormal, wie er bei seiner Vorstellung in Liverpool einst auf Nachfrage erzählte, im Gegenteil. Er ist in erster Linie in so ziemlich allen Belangen ziemlich gut. Aber er ist gleichzeitig dann doch so normal, wie man eben sein kann, wenn fast jeder Mensch der Welt das eigene Gesicht kennt.
Dazu eine kurze Anekdote. Als es 2019 für 11FREUNDE die Chance gab, Jürgen Klopp in Liverpool zu interviewen, machte sich der Autor dieses Textes auf den Weg nach England. Klopp war von einem seiner zahlreichen Werbepartner (zum Thema Werbepartner später mehr) in ein wunderschönes Anwesen an den Rand der Stadt gelockt worden, dort sollten Clips für eine Kampagne gedreht werden und in den Drehpausen sollte es Slots zum Interviewen geben. Doch wie es so ist bei solchen Terminen, wurden die Zeitpläne natürlich nicht auf die Minute eingehalten. So das Klopp eigentlich nicht mehr die Zeit dafür hatte, sich in Ruhe hinzusetzen und zu plaudern, er musste zum Training, dafür wird er ja eigentlich bezahlt. Für einen aus Deutschland angereisten Journalisten, der ja nur aus Deutschland angereist war, um sich mit Klopp in Ruhe hinzusetzen und zu plaudern, eine ziemlich beschissene Nachricht. Eigentlich.
Doch Klopp, und das ist eine seiner unterschätzen Stärken, ist flexibel. Er bekommt Dinge geregelt. Er fragte: „Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich mich während des Gesprächs umziehe? Dann spare ich ein paar Minuten.“ Und dann zog er sich Hose und Shorts aus, stand in Unterhose vor dem zunächst perplexen Journalisten und lieferte ab. Das Gespräch dauerte nur 15 Minuten. Doch jede Antwort, jeder Satz, eigentlich jedes Wort saß. Es war, vor allem, wenn man andere Gesprächspartner aus der Fußballbranche gewöhnt ist, schlichtweg ein beeindruckender Auftritt.
„Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich mich während des Gesprächs umziehe?“
Bevor es zu anbiedernd wird mit der Lobhudelei: Natürlich hat auch Jürgen Klopp seine Schwächen. Er ist auch jetzt, wo er kaum verliert, noch immer ein allerhöchstens mittelmäßiger Verlierer. Und wenn er einem mit seinem Ultraweiß-Lächeln in der Deutsche-Vermögensberatung-Halbzeitpause auf Sky erzählt, wie geil Geld anlegen doch sei, während man sich fragt, welches Geld man denn bitte anlegen soll, dann möchte man den Fernseher schon ganz gerne auf einer Mistgabel aufspießen.
Und, natürlich, auch der Erfolg von Liverpool ist erkauft. Virgil van Dijk hat fast 85 Millionen Euro gekostet, Alisson Becker mehr als 60, Mo Salah spielt ebenfalls nicht für umme, all die Jotas und Szoboszlais und McAllisters sind nicht vom Laster gefallen. Einst berichtete die BBC, dass kein Premier-League-Verein im Jahr 2020 mehr Kohle an Spielerberater abgedrückt hätte als Liverpool. Aber: Im Vergleich zur Konkurrenz aus Manchester oder London oder Madrid ergab nahezu jeder Klopp-Transfer Sinn. Das Geld wurde nicht zum Fenster rausgeworfen. Und soll er doch zusätzlich zu seinen Liverpool-Millionen noch ein paar mehr Millionen mit Werbedeals einstreichen, was soll’s? Ein Opel bleibt ein Opel. Was damit gemeint ist: Selbst seine Schwächen sind irgendwie normal. Wer verliert schon gerne? Und wer würde die Kohle nicht nehmen?
Diese kleinen Schrammen machen das große, ganze Bild jedenfalls nicht kaputt. Nicht annähernd. Jürgen Klopp hat sich in Liverpool unsterblich gemacht. Weil er den Verein nicht nur verstanden, sondern wiederbelebt hat. Weil er sich dabei von Fachleuten hat helfen lassen. Weil seine Mannschaft nicht nur erfolgreich war und ist, sondern nach wie vor aufregend spielt. Weil diese Geschichte Kitsch von der besten Sorte Kitsch ist. Kitsch von der besten Sorte war. Im Sommer 2024 hört Klopp in England auf, seine Energie lässt nach, er möchte ein normales Leben leben. Heute haben er und der FC Liverpool seine Entscheidung bekannt gegeben. Er wird als Legende abtreten. Und wenn irgendwann, in 20 Jahren oder in 30, ein anderer Trainer direkt nach einem Titelgewinn mit Liverpool live im Fernsehen interviewt werden wird, dann wird er nicht nur Kenny Dalglish und Steven Gerrard für ihre Arbeit danken. Sondern ganz bestimmt auch Jürgen Klopp.