Ein Jahr lang lässt sich Hertha BSC von einem preisgekrönten Regisseur und dessen Kameras begleiten – doch am Ende landet die geplante XXL-Dokumentation im Müll. Auf Geheiß von Investor Lars Windhorst. Die Geschichte einer vogelwilden Produktion.
Als Lee Hicken im Sommer 2020 aus Leeds nach Berlin zieht, hat er sich bereits monatelang den Kopf über sein neues Zuhause zermartert, darüber, was im kommenden Jahr in der deutschen Hauptstadt glatt gehen oder schief laufen könnte. Besser gesagt: was bei der Hertha glatt gehen oder schief laufen könnte. Hicken, ein renommierter Dokumentarfilmer, hat sportliche Best-Case- und Worst-Case-Szenarien entwickelt – Hertha spielt mit schillernden Stars ums internationale Geschäft mit, Hertha kollabiert unter dem Druck der frischen Windhorst-Millionen –, und sich dann überlegt, wie er mit seinen Leuten und seinen Kameras und seinen Mikrofonen auf die verschiedenen Situationen reagieren könnte. Hicken hat Archiv-Material gesichtet: Hertha im Jahr 2000 in der Champions League, Hertha Mitte der Achtziger vor einer Handvoll Zuschauer im Poststadion, er hat ergründet, warum genau die Alte Dame ein spannender Verein ist und mit welchen Bildern er das auch einem internationalen Publikum würde verklickern können.
Er ist in die Geschichte des Klubs abgetaucht, Plumpe, Mauerbau, Mauerfall, und in der Gegenwart wieder aufgetaucht, Cunha, Preetz, Labbadia. Er hat sich einen Plan zurechtgelegt, Hintergrundgespräche geführt, interessante Charaktere identifiziert. Und, das ist ihm heute wichtig zu betonen, Lee Hicken hat allen Beteiligten eine Sache deutlich gesagt. Er, der erfahrene Regisseur, ist nicht in Berlin, um Hertha gut oder schlecht dastehen zu lassen. Er ist auch nicht in Berlin, um Investor Lars Windhorst gut oder schlecht dastehen zu lassen. Er ist in der Stadt, um eine gute Dokumentation zu produzieren. Eine Doku, in der das zu sehen ist, was wirklich passiert. „Es hieß: Du machst die Serie“, sagt Hicken heute im Gespräch mit 11FREUNDE, „und du kannst sie so machen, wie du möchtest. Es gibt keine Regeln.“ Doch knapp zwei Jahre später ist klar, dass es sehr wohl eine entscheidende Regel gab. Das Material hätte am Ende vor allem einem Mann gefallen müssen: Lars Windhorst.
Die Geschichte über die erst geplante und dann geplatzte Hertha-Doku ist nur eine von vielen, die sich in den letzten Jahren beim Hauptstadt-Verein abgespielt hat. Und ob der man den Kopf schütteln möchte. Schließlich ist in Berlin seit 2019 so viel passiert wie woanders in Jahrzehnten: Die „Ära“ des Jürgen Klinsmann, dessen veröffentlichte „Tagebücher“, das Kabinen-Video von Salomon Kalou, die sportliche Talfahrt unter Fredi Bobic, mehr Trainerwechsel als Erfolgserlebnisse. Doch die Geschichte der Dokumentation steht exemplarisch wie keine sonst für das Grundproblem der vergangenen Jahre: Geht es um Hertha BSC, geht es immer auch um die Tennor Holding und Lars Windhorst. Den – und das ist milde ausgedrückt – nicht nur im Fußballbusiness umstrittenen Investor. Und spricht man über diese beiden Parteien, dann geht es immer auch um Streit, um Vorwürfe und Eitelkeiten, um Peinlichkeiten und Schmierentheater, um Aussage gegen Aussage, um, neudeutsch formuliert, eine toxische Beziehung. Kurz gesagt: Mit keiner Geschichte lässt sich die Misere der Hertha plastischer erzählen als mit der über die Dokumentation.
11FREUNDE hat deswegen mit dem Regisseur Lee Hicken gesprochen, mit Vereinsmitarbeitern und Insidern. Die meisten Quellen wollen anonym bleiben. Für Lars Windhorst wiederum, so lässt es Tennor-Sprecher Andreas Fritzenkötter per Mail ausrichten, ergebe eine Beantwortung des von 11FREUNDE erstellten Fragenkatalogs aktuell keinen Sinn. Doch dazu später mehr.
Über Hertha BSC amüsiert sich gerade die Republik. So große Pläne, so viel frisches Geld! Und trotzdem kämpft die Hertha gegen den Abstieg. Innenansichten eines Klubs zwischen Aufbruch und Panik.
Dass seine Arbeit später zu Zoff in der Hauptstadt führen wird, ahnt Regisseur Lee Hicken im Frühjahr 2020 noch nicht. Zu diesem Zeitpunkt ist er – Ende 30, volltätowierte Arme, schwarzer Stecker im Ohrläppchen, schwarze Hornbrille im gutmütigen Gesicht, Typ entspanntes Genie – ein gefragter Mann in der Branche. 2017 hat er die später auf Amazon Prime ausgestrahlte und weltweit gefeierte Dokumentation „Take us Home“ über Leeds United gedreht, seitdem jagt ein Jobangebot das nächste. Es gibt nicht viele Regisseure, die das können, was er kann: das Innenleben eines Fußballvereins authentisch und emotional aufbereiten, ohne dass es klebrig oder kitschig oder beides gleichzeitig wirkt. Immer mehr Vereine wiederum haben kapiert, dass es die Brüche des echten Lebens sind, mit denen sich zwischen all den aufpolierten PR-Filmchen und artifiziellen Image-Videos die Herzen der Fans gewinnen lassen.
„Ich sagte: Ihr werdet nur dann scheiße aussehen, wenn ihr euch scheiße verhaltet.“
Auch die Tennor Holding, die seit Sommer 2019 49 Prozent der Anteile an der KgAA von Hertha BSC hält, ist Anfang 2020 heiß auf großes Drama. Denn mit was ließe sich das neuste Pferd im Stall besser international präsentieren als mit einer spektakulären Serie? Tennor engagiert die Londoner Produktionsfirma „Pulse Films“ um den Star-Producer James Marsh, der mit dem Film „Man on Wire“ bereits einen Oskar gewonnen hat. Als Mitarbeiter von „Pulse Films“ kurz darauf bei Hicken anklopfen, ihm erstens von Berlin erzählen und ihn zweitens fragen, ob er den Job als Regisseur übernehmen will, muss der nicht lange überlegen. Er fliegt nach Deutschland, lernt Michael Preetz, Arne Friedrich und Paul Keuter kennen, macht deutlich, dass er niemanden in die Pfanne hauen, sondern eine herausragende Dokumentation produzieren will. „Ich sagte: Ihr werdet nur dann scheiße aussehen, wenn ihr euch scheiße verhaltet.“ Trotzdem ist Hertha zunächst skeptisch. Sich vor der Kamera nackig machen, Interna ausplaudern, fremde Kerle in die Kabine lassen? Muss das wirklich sein? Die Lösung des Problems ist ein blonder Mann aus Wolgast. Herthas Ex-Kapitän Axel Kruse hat nach der Karriere seine eigene Produktionsfirma gegründet und steigt mit „Farbfilm Media“ ebenfalls ins Projekt ein. Während Hicken als Subunternehmer von „Pulse Films“ arbeitet, wird Kruse direkt von Hertha bezahlt. Er sorgt beim Verein für Vertrauen und hat gleichzeitig Verständnis für die künstlerischen Bedürfnisse von Hicken. Er stellt Zugänge her, legt gute Worte bei den Spielern ein, sorgt für Lockerheit und hat teilweise selbst eine Kamera in der Hand.
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