Sa | 12:55 Uhr | Dortmund Hbf | Bahnsteig 8
Die Fans verlassen die Bahn durch die Mundlöcher, wie man das in der Bergmannssprache nennt. Sie werden regelrecht ausgespuckt. Die Masse bewegt sich jetzt sehr gezielt auf die Treppe zu. Es dauert keine drei Minuten, bis sich eine komplette Bahnladung in die Bahnhofshalle ergossen hat. Hegemonialansprüche werden ab diesem Zeitpunkt weniger zaghaft formuliert. Die Dortmunder rufen beim Treppenhinabsteigen: „Die Nummer eins im Pott sind wir.“ Wenn eine Bahn in dieser entscheidenden Phase nur zehn Minuten hinter dem Fahrplan liegt, ist das eine logistische Meisterleistung. Beschwerden gebe es zwar nach jedem Spiel, erzählt Bernd Winkelmann, Pressesprecher des lokalen Unternehmens DSW21. „Die Fans können die Dimension aber gar nicht abschätzen“, sagt er, „wir bewegen an jedem Spieltag eine Kleinstadt.“
Sa | 13:10 Uhr | RB 59 nach Soest
Die zehn Mitglieder der „Grafschaft Schwarz-Gelb“ steigen zu, blaublütig ist keiner von ihnen. Wo man singt, da lass dich nieder, böse Menschen kennen keine Lieder, mag die Großmutter gedacht haben, die mit ihrer Enkelin unterwegs ist. Erste Zweifel beschleichen sie, als das angebliche Grafengeschlecht die Bordtoilette bei offener Tür benutzt, immer zwei Mann gleichzeitig. Was nach dem gemeinschaftlichen Urinieren folgt, ist eine Sonderausgabe der volkstümlichen Hitparade, allerdings ohne Florian Silbereisen und ohne 1. FC Köln. Der beliebteste Schlager: „Wir füllen unser Schwimmbad mit dem Blut von S 04 / Und singen: Ihr seid ein großer Haufen Scheiße / Tod und Hass dem S 04!“ Die in Ehren ergraute Dame, die sich anfänglich wie ein Schutzwall zwischen Sängerkreis und Schutzbefohlene gestellt hatte, greift endgültig zur Notbremse, allerdings nur zur verbalen. Sie sagt zu ihrer Enkelin: „Schnell, halt dir die Ohren zu!“ Die Bundespolizei macht Ernst, hält einen jugendlichen Trinker fest. Der entschuldigt sich unüberhörbar, dass er und seine Kumpels den Spieltag halt um sechs Uhr morgens begonnen hätten, begleitet von der neuen Ballermann-Hymne. Das angesagte Genre heißt: Atzenmusik. Während der Schutzmann seine Personalien überprüft, rezitiert der Delinquent standhaft: „Hey, das geht ab / Wir feiern die ganze Nacht“.
Sa | 13:55 Uhr | RB 59 | zurück nach Dortmund Hbf
In diese Richtung fährt um diese Uhrzeit keiner mehr, alle Fahrgäste sind am Dortmunder Stadion ausgestiegen. Nur ein paar Flaschensammler laufen durch die Bahn, befüllen ihre riesigen Plastiktaschen. Sie stürmen die leeren Bahnabteile, balgen um jedes einzelne Glasgefäß. 40 Euro, sagt einer, verdiene er pro Heimspiel. Die Sammler zerstören herrliche Skulpturen aus Flaschenglas und Weißblech. Die Miniatur-Mülleimer am Platz haben längst kapituliert. Der Geruch von schalem Bier macht sich breit, der Bahnboden klebt nachhaltig. Eine Überraschung, dass die Oberlichter unversehrt sind: Bis vor ein paar Monaten gab es in Dortmund den Brauch, auf Zuruf kollektiv die Lampen zu zerstören. Hinterher riefen die Fans immer: „Dunkelkammer, Dunkelkammer“.
Sa | 14:15 Uhr | Zugang zur U 45
109 Fahrzeuge und 120 ÖPNV-Mitarbeiter sind heute im Einsatz. Es hat in den letzten Jahren nur einen Super-GAU gegeben. Kurz nach der Winterpause war die Oberleitung gerissen, unmittelbar vor dem Stadion. 20 000 Menschen standen in der Kälte. Pressesprecher Winkelmann erinnert sich: „Wir haben 45 Minuten gebraucht, um das zu flicken.“ Das interne Ziel lautet, die Fans pünktlich zur Sportschau nach Hause zu befördern. Um 20 Uhr rollt im Idealfall die letzte Einsatzbahn: zurück in die Werkstatt. Wer es auf die harte Tour mag, nimmt in Dortmund die U‑Bahn. Schon der lange Marsch durch den Tunnel mit seinen orangen und blauen Kacheln ist ein gepflasterter Fahrstuhl zum Schafott. Seitlich hängen Werbeplakate für die Sportschau, die Grünen und die Zauberflöte, am Ausgang „Innenstadt-Nord“ drängeln die Menschen, als würde wieder Begrüßungsgeld ausgegeben. Nur jeweils eine Person kommt hier auf einmal durch das Nadelöhr. Den Eingang zur Unterwelt bewacht nicht Kerberos, sondern ein groß gewachsener Mann mit einem Headset. Er hat an diesem Spieltag schon sehr viele Kinder über die Sperre gehoben, sein blaues Hemd ist komplett durchgeschwitzt. Der Geruch von Schweiß lässt sich nun nicht mehr ignorieren. Wer sich mit beherztem Ellbogeneinsatz bis hierhin durchgeschlagen hat, dünstet zwangsläufig nichts Gutes aus. Eine junge Frau verzieht das Gesicht, als sie den Menschenauflauf erblickt. Man möchte ihr zurufen: Gnädigste, es ist wirklich keine gute Idee, jetzt eine Yucca-Palme transportieren zu wollen.