Sa | 14:50 Uhr | U 45 Richtung „Stadion“
Die U‑Bahn ist auf dem Weg, keiner kann mehr umfallen. Warum sich trotzdem einige festhalten, ist rätselhaft. Unmöglich, mehr Menschen in diesen Stahlkäfig zu zwängen. Die Betriebstemperatur steigt von Minute zu Minute, das Fräulein vom Band verhallt ungehört. Atzenmusik trifft Achselhöhle. Die körperliche Extremsituation führt dazu, dass die Einwohner der Stadt Köln auf ihre Qualitäten in der gleichgeschlechtlichen Liebe reduziert werden. „Schwuuuler, schwuuuler, FC Köln.“ Die Gäste antworten keinesfalls ähnlich banal oder gar fäkal, sondern rufen geistesgegenwärtig „CSD, CSD“. Dabei wird das Material einer Belastungsprobe unterzogen, ein stumpfes Stakkato begleitet die Schlachtrufe: unzählige Fäuste hämmern mit voller Kraft gegen die Bahnverkleidung. Wer aussteigt und überlebt hat, kann sich sofort für die Sauna-WM in Finnland anmelden.
Sa | 17:25 Uhr | Haltestelle „Stadion“
Dortmund hat 1:0 gewonnen. Es ist nicht zu überhören, dass die Mannschaft gerade die Welle mit der Südtribüne praktiziert. Etwa 24.454 von 78 200 Zuschauern sind also noch im Stadion. Wer schon draußen ist, spricht mit DSW21-Mitarbeitern, die kopierte Zettel in Klarsichthüllen mit sich herumtragen. Was den Profis ihr „Entmüdungsbecken“ ist, ist für die Fans der „Entlastungszug“. Gewartet wird mit derselben Gelassenheit, mit der schon die Schwitzkur hinzu bewältigt wurde. Trikotträger sitzen auf Bierkästen, auf der Mauer und auf dem Boden. Um viertel vor sechs muss ein Mann mit schwarzer Kappe, oranger Warnweste und Handschuhen die Kundschaft sanft in die Bahn schieben, wie man das eigentlich nur aus Tokio kennt. Die externe Hilfestellung ist erfolgreich: Die Tür schließt sich endlich, im vierten Versuch.
Sa | 18:45 Uhr | RE 6 nach Düsseldorf
Nach dem Spiel läuft alles etwas komprimierter ab. Das Zeitfenster für den Transport nach Hause ist kleiner. Der Sonderzug nach Köln steht bereits am äußersten Gleis bereit. Fahrgäste mit Narrenkappen und Sonnenbrillen starren auf eine leibhaftige Nonne, die direkt gegenüber wartet. Karneval in Dortmund, aber wieder kein Kontakt zwischen den beiden Körperwelten. Einige Kölner sind erst etwas spät zugestiegen, durch das geöffnete Zugfenster. Die letzten vier Passagiere, die den Westfalen-Express betreten, tragen eine Uniform, gehören zur Bundespolizei. Trotzdem steigen die Inderin und die Türkin, die in Essen bzw. Mülheim/Ruhr warten, nicht zu. Eine Mittvierzigerin steht mitten im erschöpften Mob und schreibt eine SMS an „Schnuffi“. Ihre Botschaft lautet: „Sitzen in mega vollem RE, sind aber pünktlich.“ Über das Spiel spricht kaum jemand, Schlachtrufe werden jetzt eher als solistisches Mantra vorgetragen. Die Euphorie, die vorher herrschte: verflogen. Es schlägt die Stunde der Schläfer. Einer von ihnen sitzt neben einer jungen Mutter, die eigentlich auf eine ruhige Bahnfahrt mit ihrem Sohn gehofft hatte. Der Zeichenblock und die Buntstifte liegen jedoch unberührt auf dem kleinen Tisch. In der Folge ist zu beobachten, wie sich der Kopf des müden Kriegers immer weiter neigt. In Duisburg beträgt der Neigungswinkel noch erträgliche 30 Grad, am Düsseldorfer Flughafen sind es schon bedrohliche 45 geworden und am Hauptbahnhof kommt es zur ersten Berührung. Der Mutter bleibt nichts anderes übrig: Sie muss sich kunstfertig unter dem unbekannten Sitznachbarn herauswinden.
So | 12:15 Uhr | RE 6 nach Minden
Einen Tag später: Mönchengladbach spielt nachmittags in Bochum, in Duisburg steigt die erste Truppe ein. T‑Shirts künden vom „Niederrheininferno“. Wenn man die Träger genauer mustert, wundert man sich, dass da nicht „Hochschule Niederrhein“ steht. Eigentlich sind sie harmlose Mitreisende, zeigen sich aber textsicher, wenn es um Landser-Lyrik aus der Hooligan-Mundorgel geht. Ein paar martialische Gesänge reichen aus, um den ironiefreien Schaffner zu verschrecken. Er hat gerade noch oben im Gang kontrolliert, jetzt schlängelt er sich durch die Jungs durch, als wäre er eine Mischung aus Ingemar Stenmark und Otto Simánek. Das ganze Niederrheininferno lacht. Er hat sich regelrecht angeschlichen, tief eingeatmet und erst wieder ausgeatmet, als er vorbei war. Für Kartenkontrolleure war die flächendeckende Einführung des Kombi-Tickets ein Gottesgeschenk. Seit den neunziger Jahren gilt die Eintrittskarte als Fahrschein. Die Folge: Fans werden generell nicht mehr kontrolliert.