Noch haben die Euro-Muffel die Oberhand. Aber Achtung: Das heute beginnende Turnier könnte so viel gute Laune verbreiten wie lange keins.
Ja klar, die Europameisterschaft ist ein echter Murks, und das fängt schon mit dem Namen an. Sie heißt Euro 2020, findet aber ein Jahr später statt. Sie wird in einer Zeit eingeschränkter Reisemöglichkeiten gleich über zehn Ländern verteilt ausgetragen. Darunter in Aserbaidschan, wo die Situation bei den Menschen noch schlechter ist als es die sportliche Lage von Schalke in der letzten Saison war. Und die Beliebtheit der deutschen Mannschaft ähnelt der von nässendem Hautausschlag. Deshalb werden vermutlich selbst kommenden Mittwoch noch Menschen Scherze wie diesen machen: „Huch, gerade festgestellt, dass es eine Europameisterschaft gibt. Aber auch egal.“ Klar, das ist unheimlich lustig. Aber diese Europameisterschaft könnte ein echter Spaß werden, dank: Timetunnel, KHAS und buddhistischer Grundeinstellung. Aber der Reihe nach:
Man muss schon ganz schön alt sein, um sich an Zeiten zu erinnern, in denen so eine Europameisterschaft ohne großes Gewese einfach ausgetragen wurde. Irgendwo in Schweden oder Belgien kickten ein paar Nationalmannschaften, die Menschen schauten sich das im Fernsehen an und gingen danach ins Bett. Drumherum gab es vielleicht Sammelbildchen, aber weder Fitness-Wurst mit EM-Logo noch Autofähnchen. Und das Wort „Fan-Meile“ hätte völlige Ratlosigkeit ausgelöst. Insofern kommt es einem gerade so vor, als sei man durch den Time Tunnel gefallen und ca. im Jahr 1984 wieder herausgekommen. Denn ohne sonderliches Buhei wird ab heute (ja, wirklich heute schon) losgekickt und Mitte Juli haben wir dann einen neuen Europameister.
Der gerne vergessene Aspekt des originalen „Sommermärchens“ von 2006 war: gutes Wetter. Auch jetzt scheint die Sonne und man kann sich negativ getestet, geimpft oder genesen beinahe frei bewegen. Wie Zootiere, die in die Wildbahn entlassen werden, tasten wir uns gerade in die Freiheit vor und machen leicht ungläubig so verrückten Kram wie andere Menschen zu treffen. Wenn auch am besten nicht so viele und gerne draußen. Also vielleicht auf der Terrasse zum Grillen und zum Fußballgucken. Und hey: Dazu kann man sich eine Europameisterschaft anschauen.
Es mag eine Zeit lang interessant gewesen sein, der Dauersendung von Radio Müller bei den Spielen des FC Bayern zuzuhören, aber in Wirklichkeit braucht kein Mensch die Texte vom Platz. Zumal sich das Gequatsche im Spitzenfußball („Dranbleiben, Männer!“) kein bisschen von dem in der Bezirksliga unterscheidet. Bei der Euro werden wir davon verschont, weil die Stadien mindestens zu einem Viertel mit Fans besetzt sein werden, die keinem Schweigegelübde unterliegen, sondern richtig Krach machen dürfen. In Budapest wird die Bude sogar voll sein, weshalb die meisten Fernsehzuschauer froh sein dürften, auf der Terrasse und nicht im Stadion zu sein.
Man musste sich schon etwas dämlich anstellen oder wirklich sehr wenig Talent haben, um sich zur Endrunde nicht zu qualifizieren. Fast jede zweite Mannschaft, die an der Qualifikation teilnahm schaffte das. Sogar Schottland ist zum ersten Mal seit 1998 wieder bei einem großen Turnier dabei, nach über zwei Jahrzehnten Pleiten, Pech und Pannen. So ist die Auswahl an schicken Außenseitern relativ groß. Als Spitzen-Quälgeist für Favoriten könnten sich die Nordmazedonier um den ungefähr 62 Jahre alten Stürmerstar Goran Pandev erweisen. Peinlich berührt erinnern wir uns an ihren 2:1‑Sieg in Duisburg gegen die – hüstel! – deutsche Mannschaft. Populärster Außenseiter dürften die Finnen werden, denn käsig-rustikale Nordländer vom Polarkreis lösen hierzulande verlässlich Zuneigungsstürme aus. Die Finnen hatten es noch nie zu einer WM oder EM geschafft haben, wohin sie nun Teemu Pukki geschossen hat – der Ex-Schalker. (An dieser Stelle bitte selber einen beliebigen Witz auf Kosten von Schalke einfügen.)
Es soll auch Leute geben, die mit dem Außenseiter-gut-Finden nicht so viel anfangen können. (Oder die das sonst schon mit ihren verdammten Vereinsmannschaften machen müssen und deshalb gerne mal vier Wochen Urlaub von diesem Konzept nehmen.) Für die gibt es eine französische Supermannschaft mit Superstar (Mbappé) und Super-Trainer (Deschamps), die übrigens auch aktueller Weltmeister sind. Außerdem coole Italiener, die Deutschland‑6:0‑Tranchierer aus Spanien und eine englische Mannschaft aus der Rubrik „hochtalentiert“. Und Portugal natürlich, bei denen Cristiano Ronaldo, 36, vermutlich sein drittletztes Turnier spielt.
Cristiano Ronaldo ist aber nicht der älteste Spieler seiner Mannschaft, das ist nämlich der ewige Pepe mit inzwischen 38 Jahren. Überhaupt ist dieses Turnier eine riesige Ü30-Party und zwar aus der Kategorie „Geht auf die 40 zu“. Das gilt reihenweise für die Torhüter, von denen stellvertretend der Holländer Marten Stekelenburg, 38, genannt sein soll. Die belgischen Innenverteidiger Thomas Vermaelen, 35, und Jan Vertonghen, 34, strahlen gediegene Seniorität aus, was schon lange für den Italiener Giorgio Chiellini, 36, gilt und den Ukrainer Yuri Zhirkov, 37. Es gibt übrigens auch Alt-Torjäger wie den Türken Burak Yilmaz, 35, und den schon erwähnten Goran Pandev. Er ist übrigens ist 37, sieht aber älter aus.
Vor dem Trainingslager der deutschen Mannschaft in Herzogenaurach stehen Plakatwände, auf denen mega-schwurblige Motivationssprüche in einer Sprache zu lesen sind, die Englisch sein könnte. Einer heißt: „Where some see Die Mannschaft breaking new ground, we see a new future been written.“ Wir lassen uns von diesem Gelaber über neue Wege und eine neue Zukunft nicht ablenken und stellen uns auch nicht die Frage, wie denn die alte Zukunft aussah. Denn voll buddhistisch befinden wir uns im Hier und Jetzt. Und da ist alles gut (also, wenn’s im ersten Spiel gegen Frankreich gut wird). Der super-fokussierte Super-Jogi wird uns und seine Mannschaft zu einem neuen Tagesanbruch führen. („Where some see an old Löw, we see a man on a mission.“) Ommmm!
Jeder Fußballfreund, der diesen Namen verdient, ist natürlich Mitglied der „Kai Havertz Adoration Society“ (KHAS). Schließlich bewegt sich der ehemalige Leverkusener mit einer somnambulen Leichtigkeit über den Platz, die schlichtweg anbetungswürdig ist. Mehr Eleganz wird bei der Euro schwer zu finden sein, aber zugleich droht am Horizont das Mesut-Özil-Problem. Es heißt „Körpersprache“, denn Havertz weigert sich, das schwer aussehen zu lassen, was schwer ist, ihm aber leicht fällt. Die Mitglieder der KHAS werden daher einen undurchlässigen Schutzwall gegen die Körpersprachler um ihn bilden müssen.
Es ist zweifellos total bescheuert, dass in den nächsten Wochen Zehntausende kreuz und quer durch Europa reisen, um zu kicken oder beim Kicken zuzugucken. Da lacht das Virus und das Klima weint. Aber irgendwie weckt es auch das schöne Gefühl eines gemeinsamen Europas. Und was könnten wir gerade besser gebrauchen als das schöne Gefühl von Gemeinsamkeit?