Vor zwei Jahren besiegte Eintracht Frankfurt sensationell den FC Bayern und wurde Pokalsieger. Auch, weil Mijat Gacinovic den Sprint seiner Karriere hinlegte.
Mijat Gacinovics Weg in die Ewigkeit ist knapp 70 Meter lang. Er spitzelt seinem Gegner den Ball vom Fuß, sprintet los, das Tor ist leer, aber es ist auch weit entfernt. Er hat die Augen weit geöffnet, als würde er vor der Größe dieses Moments erschrecken. Seine Arme rudern durch die Luft, er schwimmt an gegen die Strömung, die eine solche Chance sein kann. Die unendlichen Möglichkeiten dieser Handvoll Sekunden – Versagen, Triumph, diese endlos weiten 70 Meter. Er legt sich den Ball vor, rennt hinterher, blickt sich um, dreimal, viermal, fünf Sekunden vergehen, sechs, sieben. An der Seitenlinie springen Gacinovics Teamkameraden auf und ab, sprinten mit ihm, als müssten sie alle gemeinsam diesen einen letzten Ball des Spiels über die Linie treiben. Mit vereinten Kräften, damit nicht die ganze Wucht dieses Sports, dieses Moments allein auf Gacinovics schmalen Schultern lastet.
Gacinovic rennt. Im Stadion schwillt der Jubel an, Menschen ringen nach Luft und schreien trotzdem. Sie klammern sich an ihren Sitznachbarn fest, als müssten sie sicherstellen, nicht von der Fliehkraft des Augenblicks umgerissen zu werden. Sie springen von ihren Plätzen auf und scheinen nicht wieder zu landen. Sie lachen und weinen gleichzeitig. Sie hoffen und bangen, sie können es nicht glauben, Gacinovic rennt, sie verstehen: Niemand wird ihn mehr einholen können. Und während Gacinovic den Ball zum 3:1 über die Linie rollen lässt und einfach weiterrennt, über die Bande zu den Fans, und noch viel weiter, bis in ihre weit offenen Herzen, löst sich für die zahllosen Anhänger, die sich schreiend in den Armen liegen, ein 30 Jahre alter Knoten. Eintracht Frankfurt ist Pokalsieger.
„Oh, wie ist das schön“
In der TV-Übertragung geht es ein wenig unter, aber als der erste Jubel über die Sensation abgeebbt ist, bleibt es ungewöhnlich still im Stadion. Die Fans der Eintracht, sie haben für eine solche Situation keine Lieder. Ihre Gesänge handeln vom Durchhalten, davon, dass man trotzdem zum Fußball geht, auch wenn es oft schmerzhaft ist, und von der vagen Hoffnung, dass eines Tages alles besser wird. Nun, da dieser Tag gekommen ist, wirken viele Anhänger geradezu überrumpelt. Ihre Mannschaft verliert Pokale eher, als dass sie sie gewinnt, verpasst die Chancen eher, als dass sie sie nutzt. Es ist eine Gewissheit, die sich nach dem Trauma der 1992 in Rostock verlorenen Meisterschaft tief in die Seele der SGE-Fans gegraben hat und dort vernarbt ist. Jetzt halten die Spieler ihrer Mannschaft einen goldenen Pokal gen Kurve, von dem niemand im Stadion so recht sagen kann, warum nicht die Bayern, der größtmögliche Favorit an diesem Abend, ihn gewonnen haben. Fans schütteln die Köpfe, manche singen ein verlegenes „Oh, wie ist das schön“, das der tatsächlichen Schönheit dieses Abends nie gerecht werden kann.
Ebenso überrascht wie die Fans wirken die Spieler. Marius Wolf sitzt auf dem Rasen und schlägt erschrocken die Hände vors Gesicht. Kevin-Prince Boateng wird von seinen Emotionen in die Knie gezwungen. Der bullige Ante Rebic findet inmitten des Trubels ein paar Augenblicke, um zu weinen, und wirkt dabei, als täte er das zum ersten Mal. Sehr viel später in der Nacht, um vier Uhr morgens vor dem Brandenburger Tor, sagt Danny da Costa: „Ich brauche noch zwei, drei Tage, um das zu realisieren.“Er spricht in diesem Moment für alle, die es mit der Eintracht halten.
Der Tag, an dem alles besser wird
Und er hat Unrecht. Denn um zu realisieren, was passiert ist, braucht es lediglich eine Nacht. Schon am frühen Morgen nach dem Triumph platzt der Frankfurter Römer aus allen Nähten, gegen Mittag wird er geschlossen. Als der Eintracht-Tross in Berlin ins Flugzeug steigt, warten in Frankfurt bereits 100 000 Menschen. Bei der Landung hält der Pilot den Pokal aus dem Fenster, die Feuerwehr grüßt die Maschine mit Wasserfontänen. Schon auf der Autobahn warten erste Fans auf den Autokorso, der wenige Kilometer später kaum noch über die Mainbrücke kommt. Die Menschen springen auf die Autos, sie küssen den Pokal und umarmen die Spieler. Als die Mannschaft den Pokal auf dem Römerbalkon präsentiert, werden Rauchtöpfe gezündet.
Aber an diesem Tag liegt in Frankfurt viel mehr in der Luft als schwarz-roter Nebel. Die Gewissheit, verbunden zu sein mit etwas, das oft schwierig und schmerzhaft ist, aber noch viel lohnenswerter und bereichernder. Dass man als Fan Teil von etwas ist, das zugleich Teil von einem selbst ist. Und dass es stimmt, was man in den Liedern singt, auch wenn man schon lange nicht mehr daran geglaubt hat: Dass der Tag tatsächlich kommt, an dem alles besser wird und die Hoffnung nicht stirbt, sondern einfach in Erfüllung geht. Auch wenn das mitunter 30 Jahre dauert. Oder eben knapp 70 Meter.