96 Fußballfans sterben am 15. April 1989 im Stadion von Sheffield. Erst 27 Jahre später erfahren die Toten von Hillsborough Gerechtigkeit. Ein Überlebender erzählt.
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Am 15. April 1989 trat ich durch einen Tunnel im Hillsborough-Stadion in Sheffield ins Sonnenlicht und dachte: „Wo wärst du an einem Tag wie heute lieber als hier?“ Mein Verein, der FC Liverpool, spielte gegen Nottingham Forest, den Klub meines Bruders, um den Einzug ins FA-Cup-Finale. Er stand auf dem Hillsborough Kop, ich auf der Tribüne an der Leppings Lane, um Barnes, Beardsley, Aldridge, Nicol, Hansen und Whelan anzufeuern. Für mein Ticket hatte ich sechs Pfund bezahlt – ein Schnäppchen, um dieses Team bei diesem Wetter und in diesem altehrwürdigen Stadion spielen sehen zu dürfen.
Als ich um kurz nach zwei Uhr in Block 3 komme, direkt hinter dem Tor, scheint die Tribüne schon so gut wie voll zu sein. Ich lehne mich träge an einen Wellenbrecher und plaudere mit ein paar Kumpels, die nach besseren Plätzen Ausschau halten. Während die Sonne über die Tribüne wandert, vertreiben wir uns die Zeit damit, uns unter „Olé“-Rufen einen Strandball zuzuwerfen. Ich bin sehr froh über meinen Platz, etwa sechs Meter vom blauen Gitterzaun entfernt.
„Hier sind zu viele Leute drin“
Gegen 14.35 Uhr wird es seltsam ungemütlich. Ein Ruck geht durch die Menge und wir werden nach vorn geschubst, aber federn von dort nicht zurück. „Hier sind zu viele Leute drin“, murrt jemand hinter mir. Fast unmerklich kippt die zuvor unbeschwerte Stimmung. Wir sind die harten Kerle vom legendären Liverpooler Kop, uns kann so schnell nichts erschüttern. Aber klammheimlich schauen wir uns um, ob die anderen okay sind und sonst noch jemand beunruhigt ist. Viele von uns sind es, mehr noch: Wir haben Angst, hier stimmt was nicht. Die Menge keucht und wälzt sich. Dann setzt sie sich langsam und widerstrebend fest wie stockender Beton. Die Leute rammen Köpfe in Schultern und Rücken, um Luft zu bekommen; sie setzen Arme und Knie ein, um sich ein klein wenig Platz zu verschaffen. Hände drücken gegen meinen Rücken und Füße gegen meine Waden. Ich spüre jemandes heißen Atem in meinem Nacken. Niemand hat mehr die Kontrolle über seine Bewegungen, schließlich verliert hinter mir jemand die Nerven und brüllt: „Macht das verdammte Tor auf!“
Um 14.52 Uhr öffnet tatsächlich jemand ein Tor, aber es ist nicht das Tor im Sicherheitszaun, durch das wir aufs Spielfeld entkommen könnten. Es ist das Tor C der Tribüne, das eigentlich als Ausgang dient. 2000 Menschen, die sich eben noch vor dem Eingangstor hinter der Kurve gedrängt haben, werden ins Stadion gelassen. Da keine Polizisten bereitstehen, um sie in die relativ leeren Blöcke rechts und links von uns zu leiten, kommen diese 2000 Menschen fast gleichzeitig in einen vier Meter breiten Tunnel mit 16 Prozent Gefälle.
Unterträgliche Schreie
Durch die Verdichtung der Menge werden die Leute buchstäblich in die Blöcke 3 und 4 geblasen. Manche werden mit Wucht erfasst und so um die eigene Achse gedreht, dass sie mit dem Rücken zuerst die Tribüne betreten. Manche werden durch die Menge auf Block 3 hindurch bis zum Zaun geschleudert. Nun rund vier Meter vom Zaun entfernt habe ich das Gefühl, als hätte mir jemand mit einem Hammer zwischen die Schulterblätter geschlagen. Aber ich habe noch Glück: Ich werde mitten auf den Rücken getroffen und nach vorn gedrückt. Andere erwischt es an der Schulter, sie werden herumgewirbelt und gehen zu Boden. Und stehen nicht mehr auf.
Das Schreien wird nun unerträglich. Aber niemand kommt, um uns zu helfen. Leute, die sich aus dem Gewühl befreien können und den Zaun erklimmen, werden oben, an der stachelbewehrten Spitze, von Polizisten, die von der anderen Seite aus hinaufklettern, empfangen. Die Fans sagen der Polizei, dass wir Hilfe brauchen. Die Polizei schubst die Fans zurück ins Gewühl.
Einen Fußballer bekomme ich an diesem Tag nicht zu sehen. Es ist kurz nach drei und ich schwanke nun zwischen diesem Leben und dem nächsten. Inzwischen ist das Spiel angepfiffen worden. Auf der Nordtribüne kann ich Leute erkennen, die das Spiel verfolgen. Andere blicken in unsere Richtung und gestikulieren aufgebracht oder laufen die Mittelgänge hinunter zum Spielfeld, um sich bei der Polizei Gehör zu verschaffen. Aber sie sind zu weit weg. Um mich herum, nur wenige Meter entfernt, ringen Menschen um ihr Leben.