Kürzlich feierte der SSV Ulm 1846 seinen 175. Geburtstag. Besonders waren dabei vor allem die letzten 25 Jahre. Mit dabei: drei Insolvenzen, ein Wettskandal, eine Jahr Bundesliga und der Fußballprofessor Ralf Rangnick. Vereinsarchivar und Maskottchen Jürgen Springer erzählt, wie es ist, als Fan immer in der Achterbahn zu sitzen.
Wer nach Ulm reist, landet in der beschaulichen schwäbischen Idylle. Stress scheint hier ein Fremdwort zu sein. Mit 161,53 Metern ragt die Spitze des Ulmer Münsters als höchster Kirchturm der Welt aus der Stadt heraus. Ansonsten ist der Ulmer bodenständig, fleißig und sparsam. Drei Eigenschaften die dem SSV Ulm 1846 in der Vergangenheit wiederholt fehlten.
In der 175-jährigen Vereinsgeschichte des Schwimm- und Sportvereins von 1846 kriselte es in den letzten 25 Jahren häufig. Wer sich dauerhaft mit Hiobsbotschaften konfrontiert sieht, braucht einen entsprechenden Galgenhumor. Wie ist das, als Fan dauerhaft auf dem Drahtseil zwischen Himmel und Hölle zu balancieren? Wenn einer diese Frage beantworten kann, dann Jürgen Springer, der als Fan, Vereinsarchivar und an Spieltagen als Maskottchen „Jack“ ganz nah am Verein ist.
„Man verzeiht hier sehr, sehr viel“ sagt Springer mit beeindruckender Gelassenheit. Die braucht man offenbar, wenn man dem SSV Ulm 1846 sein Herz geschenkt hat. „Aktuell spielen wir solide in der Regionalliga und durch die Pokalerfolge haben wir unser Image ordentlich aufpoliert. Aber ganz ehrlich, eine weitere Panne sollten wir uns nicht mehr erlauben.“ Davon gab es in der jüngeren Vereinsgeschichte schließlich genug. „Wir kennen mittlerweile alle Dorfsportplätze, das brauchen wir nicht mehr.“ Besonders bitter waren für Springer Auswärtsspiele, bei denen die Heimfans den ehemaligen Bundesligisten mit einer gehörigen Portion Spott empfingen. „Beim SV Spielberg hatte ein Haufen ‚Rotznasen‘ ein Transparent mit der Aufschrift ’Wir grüßen den Insolvenzmeister aus Ulm’ dabei. Das tut schon weh.“
Wie konnte es soweit kommen, dass der SSV auf Dorfplätzen verlacht wird? Die Spurensuche beginnt 1962. Während die besten Oberligamannschaften Deutschlands ihre Bewerbungsunterlagen für die Bundesliga zusammenheften, fällt bei der TSG Ulm 1846, der damaligen Nummer 1 der Stadt, die Entscheidung gegen die Teilnahme. Man wolle dem Amateursport erhalten bleiben, heißt es. Größere Ziele verfolgt man ab 1970. Durch die Fusion der TSG Ulm mit dem 1. SSV Ulm, entsteht über Nacht der größte Breitensportverein Deutschlands. Sportlich pendelt man trotz gebündelter Kräfte die nächsten zwei Jahrzehnte zwischen Zweit‑, Dritt- und Viertklassigkeit.
Mitte der 90er Jahre weht plötzlich ein anderer Wind durch die Donaustadt. 1996 gewinnen die Spatzen die deutsche Amateurmeisterschaft, im Winter 1997 wird ein bis dahin nur in der Amateurklasse tätiger Trainer verpflichtet: Ralf Rangnick. Nach einem halben Jahr Eingewöhnungszeit wird das Saisonziel verkündet: Oben angreifen und in die 2. Bundesliga aufsteigen. „Wir wollen und wir werden“ beschreibt Springer die Mentalität dieser Tage. „Damit konnte sich jeder identifizieren. Das hat die nötigen Prozentpunkte herausgekitzelt.“ Rangnick behält recht, als Meister der Regionalliga Süd steigt der SSV Ulm auf.
Einen kleinen Aufreger gibt es für Springer dennoch. „Das DSF hat alle Aufsteiger in einer eigenen Sendung vorstellt – außer uns! Ich warte bis heute auf eine Stellungnahme vom Sender“, lacht der Vereinsarchivar. Einen legendären Fernsehauftritt gibt es dafür an anderer Stelle: 16 Spieltage sind die Ulmer ungeschlagen, als das aktuelle Sportstudio Ralf Rangnick einlädt. An der Magnettafel darf Rangnick einem gespannt dreiblickenden Michael Steinbrecher seine Erfolgsgeheimnisse erklären:
Auch in Stuttgart wird man auf Rangnick aufmerksam – zwei Monate später sitzt er beim VfB auf der Bank. Martin Andermatt übernimmt bei den Spatzen und führt Ulm im Sommer 1999 in die erste Liga. „Für den letzten Spieltag hätten wir ohne Ende Karten verkaufen können, denn wir hatten als kleiner Verein den ganz großen Wurf vor Augen“, erinnert sich Springer.
„Man fühlte sich als Teil der Geschichte“ sagt Springer. Aber Flug und Fall sind auch in der Bundesliga stete Begleiter der Ulmer. Auswärts bei Hansa Rostock hagelt es gleich fünf Platzverweise, einen davon gegen Trainer Andermatt. Ob es wirklich so ein Skandal war, wie Janusz Gora in die TV-Mikrofone schreit, möchte Springer nicht bestätigen – die Situation habe sich eben hochgeschaukelt. Skurrile Szenen gibt es auch in Dortmund. Nach dem enttäuschenden 1:1 bejubelt die Südtribüne die Gäste aus Ulm. „Die Dortmunder haben dann angefangen uns zu besingen um ihre Mannschaft zu verhöhnen. Das war schon ein Gänsehautmoment für mich“. Danach geht es stetig bergauf, spieltageweise liegt Ulm sogar in Schlagdistanz zu den UI-Cup-Plätzen. Die kalte Dusche kommt dann mit dem legendären 1:9 gegen Bayer Leverkusen. Doch selbst an das historische Debakel hat Springer gute Erinnerungen: „Immerhin ist es nicht zweistellig geworden. Und als Leandro in der 90. Minute den Ehrentreffer schoss, gab es kein Halten mehr. Da haben wir gefeiert, als wären wir Meister geworden.“