Kürzlich feierte der SSV Ulm 1846 seinen 175. Geburtstag. Besonders waren dabei vor allem die letzten 25 Jahre. Mit dabei: drei Insolvenzen, ein Wettskandal, eine Jahr Bundesliga und der Fußballprofessor Ralf Rangnick. Vereinsarchivar und Maskottchen Jürgen Springer erzählt, wie es ist, als Fan immer in der Achterbahn zu sitzen.
Doch die Klatsche ist für die Spatzen der Sturz in den freien Fall. Mit nur einem Sieg aus den letzten neun Spielen ist der Abstieg beinah unvermeidbar. Dennoch haben sich die Ulmer nicht aufgegeben: „Wir hatten Geschmack an der Bundesliga gefunden, wir wollten weiter dazugehören.“ beschreibt Springer die Stimmung beim letzten Auswärtsspiel in Frankfurt. Es sieht gut aus, bis Horst Heldt in der 90. Minuten zum 2:1 für Frankfurt trifft. Mit 35 Punkten steigt der SSV Ulm 1846 ab. „Immerhin waren wir besser als Tasmania Berlin“, merkt Springer an und kann sich das Lachen nicht verkneifen. Im Vereinsumfeld laufen sofort die Planungen an, schnellstmöglich wieder in die Bundesliga zurückzukehren. Doch es kommt ganz anders: Der Verein hat Schwierigkeiten, in der Zweiten Liga Fuß zu fassen. Er fällt auf windige Sponsoren herein und muss die Aufstiegspläne alsbald wieder verwerfen. „Wir konnten die Situation alleine nicht mehr stemmen“, erinnert sich Springer.
Als der 1. FC Nürnberg im August 2001 zur ersten DFB-Pokalrunde nach Ulm kommt, ist der SSV aufgrund verweigerter Lizenzen bis in die Oberliga gestürzt und steckt mitten im Insolvenzverfahren. Die Bild-Zeitung titelt: „Ist das heute das letzte Spiel des SSV Ulm 1846?“. Vor 5500 Zuschauern gelingt die Sensation – der Fünftligist schlägt den Bundesligisten. Bis heute einmalig. „So haben wir uns die ganze Saison finanziert. Da war der Insolvenzverwalter natürlich zufrieden.“ Der Ligaalltag bringt die Ulmer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Vor zwei Jahren spielte man beim FC Bayern – jetzt auf besseren Kuhwiesen der schwäbischen Alb. „Das war ein Kulturschock. Wir sind manchmal mit 3000 Fans auswärts gefahren und kamen zu Vereinen, die nichtmal fünf Würste auf dem Grill hatten“, sagt Springer. „Bauzäune, Dixi-Toiletten, das war unser Gästeblock.“ Vielen vergeht in dieser Zeit die Lust auf den SSV. Diejenigen, die der Erfolg angelockt hat, sind so schnell wieder verschwunden wie sie gekommen sind. „Wir merken bis heute, dass die Generation 35 – 45 fehlt“.
2008 gelingt der Regionalligaaufstieg nach sechs Jahren Landpartie. Nur wenig später kommt der Zoll auf die Geschäftsstelle. Spieler sollen arbeitslos gemeldet worden sein, um Sozialversicherungsabgaben zu sparen. 15 Monate später steht die Staatsanwaltschaft auf der Matte: Im Zusammenhang mit dem Wettskandal stehen die letzten vier Spiele der Saison 2008/2009 unter Verdacht, von Ante Sapina und Kollegen verschoben worden zu sein. Springer betreut zu dieser Zeit das Projekt „Fit und Fun mit dem SSV Ulm“. Spieler sollen Jugendlichen Spaß an Bewegung und dem SSV vermitteln. „Da steht ein Spieler im Klassenraum und erzählt von seiner Profikarriere und dem Verein und im selben Moment ist die Razzia, das ist schon absurd.“ Drei Spielern wird fristlos gekündigt, eine lückenlose Aufklärung gibt es bis heute nicht.
Um den Breitensport vor der launischen Fußballabteilung zu schützen, beschließen die Verantwortlichen, die Fußballsparte aus dem Hauptverein herauszulösen. „Wenn wieder etwas schief geht, stehen 23 Sportabteilungen vor dem Aus, von Leichtathletik bis Schach. Das kann man nicht verantworten“, begründet Springer. Wie weise diese Entscheidung ist, wird zwei Jahre später deutlich, als mal wieder der Insolvenzverwalter klingelt. Ein Minus von 165.000 Euro hat den Verein in Schieflage gebracht. In der unattraktiven Regionalliga Süd, in der 9 von 18 Mannschaften Zweitvertretungen von Profiklubs sind, generiert der Verein kaum Zuschauereinnahmen. Ein Sponsor, der den Betrag übernehmen könnte, lässt sich nicht finden. Auch Uli Hoeneß, der bei der TSG Ulm groß geworden ist, sitzt mit am runden Tisch. Doch auch der scheint abgeschreckt von den Ulmer Unwägbarkeiten: „Auch wenn ich hier geboren wurde und dem Verein verbunden bin, kann ich doch nicht jedes Jahr zum Testspiel nach Ulm fahren, um den Verein zu retten“ soll er gesagt haben. Am Ende will niemand in die Bresche sprengen. Der Verein geht in die zweite Insolvenz – wegen eines sechsstelligen Betrags.
Am Ende einigen sich Verein und Gläubiger auf symbolische Zahlungen von 1846 Euro. Mit dem zweiten Neustart im Rücken spielt der SSV solide Runden in der Regionalliga Süd – bis die Kohle erneut knapp wird. 2014 ist die Lage so schlecht wie nie zuvor, sogar die Löschung aus dem Vereinsregister steht zur Debatte. „Wir dachten, das war‘s jetzt wirklich. Da ging es ums nackte Überleben.“ Bis tief in die Nacht tagen sie in den Räumlichkeiten des Vereins und verkünden letztendlich die Rettung. Der SSV, der ewige Patient, der auf dem Weg ins Krematorium wiederbelebt wird. „Viele Unternehmer haben sich verpflichtet gefühlt, den Verein zu retten. Sonst wäre Profifußball in Ulm bis heute undenkbar.“ Aber Totgesagte leben bekanntlich länger. Im Mai 2015 reist der SSV mit Trainer, Sportdirektor und Präsident in Personalunion, Paul Sauter, zum SSV Reutlingen. Mit dem 4:1‑Auswärtssieg wird die Oberligameisterschaft gesichert, 15 Monate nachdem fast alle Lichter aus waren.
Im Jahr 2019 steht der SSV wieder auf gesunden Beinen. 18500 Zuschauer sehen das Erstrundenspiel gegen den amtierenden Pokalsieger Eintracht Frankfurt. Springer fühlt sich „20 Jahre zurückversetzt: Überall sah man Fans, die seit der Bundesliga nicht mehr da waren.“ Eine lange nicht gespürte Euphorie verbreitet sich im beschaulichen Ulm. Mit 2:1 schicken die Spatzen den Bundesligisten nach Hause. Sieben Tage später folgt die Katerstimmung. Für das nächste Heimspiel gegen den FC Homburg plant der Verein groß – am Ende kommen 1500 Zuschauer. „Das war enttäuschend, aber zeigt auch, dass wir einiges an Vertrauen zurückgewinnen müssen“, sagt Springer. In feiernder Selbstkritik präsentiert sich auch die Ulmer Fankurve in der zweiten DFB-Pokal-Runde gegen Fortuna Düsseldorf. In großen Lettern zählen die Fans die Ulmer „Schbezialidäda“ wie “z‘viel Geld ausgäba ond älle Favoridda nauskägla“ auf. Dazu wandert eine riesige Bowlingkugel durch die Kurve. Die Aktion wird jedoch bereits nach 13 Sekunden durch Ardian Morinas 1:0 unterbrochen. Es ist das schnellste Pokaltor aller Zeiten. Die anschließenden fünf Frankfurter Tore verkommen im Fangedächtnis zur Randnotiz.
Geht es nach den Verantwortlichen, sollen solche Duelle künftig wieder Alltag sein: Langfristig wird der Drittligaaufstieg angepeilt. Springer fehlt dazu allerdings „die ganz große Euphorie, so wie 1997“. Finanziell sieht es dafür gut aus, der Verein hat sich das Vertrauen der lokalen Wirtschaft zurückerarbeitet. Am Donaustrand sollte man allerdings vorsichtig sein – denn unverhofft kommt in Ulm ein bisschen öfter, als es für die leidgeprüften Anhänger gut ist.