Heute vor 20 Jahren verlor Deportive Alavés das UEFA-Pokalfinale gegen Liverpool. Hier erinnert sich Benjamin Kuhlhoff an den Tag, an dem Jordi Cruyff für ihn entschied, in die weite Welt zu ziehen.
Jordi Cruyff und ich stehen uns näher, als man glaubt. Sicher ist zumindest, dass er davon noch nichts weiß. Darum muss das jetzt einfach mal raus: Ja, auch ich bin der Sohn einer Fußballkoryphäe. Nun gut, der sportliche Glanz meines Vaters beschränkte sich lediglich auf eine 3000-Seelen-Gemeinde im Osnabrücker Südkreis. In diesem Kleinod trug ich aber umso schwerer am fußballerischen Erbe meines alten Herren. Schließlich war der Mann, den man im Verein gemeinhin nur „den Schwatten“ rief, seinerzeit ein überdurchschnittlicher Stürmer gewesen.
Jeder wusste: Das musste schiefgehen
Als einer der wenigen Dorfkicker hatte er sich jahrelang bei einem höherklassigen Klub durchgesetzt. Die Tatsache, dass er während meiner gesamten Jugend mein Trainer war, tat zwar meiner fußballerischen Ausbildung gut, machte den Rucksack aber nicht leichter. Wenn man so will, galt ich per Geburt als großes Versprechen für die spärliche Zukunft meines Dorfvereins. Und jeder wusste: Das musste schiefgehen.
Aus diesem Grund konnte ich zumindest ein bisschen nachfühlen, wie sich Jordi Johan Cruyff Zeit seiner Karriere gefühlt haben muss. Der Blondschopf, dem sein Vater nicht nur einen tonnenschweren Nachnamen, sondern gleich auch noch den eigenen Vornamen vererbt hatte, wanderte viele Jahre durch die Topklubs Europas, nur um sich immer wieder anhören zu müssen, dass er doch nie zu den ganz Großen gehören würde.
Jordi Cruyff, der „Trainingsweltmeister“
Klar, wer den FC Barcelona und Manchester United in seiner Vita stehen hat, kann kein ganz Schlechter gewesen sein, der Glanz seines Vaters überstrahlte trotzdem alles. Sein Mitspieler Ryan Giggs hatte ihn einmal sogar verächtlich „Trainingsweltmeister“ genannt. Dieser Spitzname klebte an ihm wie altes Kaugummi. Deswegen trat Cruyff junior im Jahr 2000 die Flucht nach hinten an und wechselte zum No-Name-Klub Deportive Alavés nach Spanien.
Mit dieser Partytruppe, die auch schon mal in Freizeitkleidung zu Inter Mailand reiste, am Flughafen nicht von den wartenden Journalisten erkannt wurde und kurzerhand ein paar mitgereiste Fans zu den Interviews schickte, hatte Cruyff junior sich sensationell für das Uefa-Cup-Finale im Dortmunder Westfalenstadion qualifiziert. Experten setzten höchstens im Scherz ein paar Mark auf die Spanier, schließlich hieß der übermächtige Gegner FC Liverpool. Und dennoch wurde der 16. Mai 2001 schließlich zum letzten großen Lichtblitz in der Karriere des Jordi Cruyff.
Auch für mich war dieser Tag kein ganz unwichtiges Datum, denn just dann erreichte mich eine Nachricht, die meine Vorfreude auf das Spiel etwas verkomplizierte: Ein höherklassiger Klub hatte sein Interesse an mir bekundet. Diese Chance brachte mich ins Grübeln. Sollte ich weiter auf den Spuren meines Vaters durch die Kreisliga wandern? Oder wie Cruyff junior neue Wege gehen? Ich entschloss mich, ein lange Liste von Pros (Traum vom Profidasein lebt weiter, Ruhm, Ehre) und Contras (sowieso niemals Profi werden, kein Ruhm, keine Ehre – nicht mal mehr Bier) zu erstellen, zur Entspannung sollte das im Grunde unwichtige Finale im Fernsehen laufen. Doch dieses Spiel war keinesfalls entspannend, es war ein 22-Mann-LSD-Trip. 117 Minuten Hardcore.
Liverpool ging schnell mit 2:0 in Führung, Altstar Garry McAllister und sein Thronfolger Steven Gerrard drehten die Underdogs aus dem Baskenland gehörig auf links. Halbzeitstand: 3:1 für die Reds. Doch nach dem Wiederanpfiff kam Alaves schnell zum Anschlusstreffer. 3:2. Nur drei Minuten später der Ausgleich. 3:3. Längst erinnerte das Spiel an den finalen Kampf in Rocky I: Balboa gegen Creed. Beide wankten, beide schlugen Luftlöcher, beide gingen in die Seile, beide rangen nach Sauerstoff und doch ließen beide einfach nicht voneinander ab. Irgendwo spritze sicher auch ein bisschen Blut. Als Robby Fowler Liverpool dann in der 73. Minute erneut in Führung schoss, schmiss ich meine karge Pro-und-Contra-Liste in die Mülltonne. Die zwei Einträge konnte ich mir auch gerade noch merken. Atemlos ächzte ich: „Jordi, schneid mir die Augen auf!“
Und der kleine Cruyff tat wie ihm Befehl. Während sich Gerrard, Babbel und Co. schon für die Siegerehrung bereitmachten, drückte der Mann mit der hohen Stirn in der 89. Minute eine schlichte Ecke per Kopf ins Netz. Sein Lifetime-Moment, in dem auch ich ahnte, dass es sich tatsächlich lohnen könnte, den Weg aus dem heimischen Nest hinaus in die weite Welt zu suchen. Ich entschied: Ich probiere es ein paar Ligen höher!
Der Rest ist Geschichte. Alavés zahlte bitter für den 90-minütigen Freefight mit den Inselkickern und verlor in der Verlängerung zwei Spieler mit Gelb-Rot. Und natürlich ließ dann auch noch ein Mann mit dem Friseurinnennamen Geli drei Minuten vor dem Abpfiff die Träume von Alavés per Eigentor platzen. Verdammte Golden-Goal-Regel. So gewann Liverpool eines der aufregendsten Spiele der letzten 20 Jahre. Verdient? Durch Glück? Wen zur Hölle interessiert das?
Bei der anschließenden Siegerehrung hielten sich die Unterlegenen nur mit Mühe auf den Beinen. Mann für Mann trotteten sie auch die schmale Holzbühne und ließen sich die Medaillen umhängen. Coach Manés monströser Schnauzbart vibrierte. Bloß nicht weinen. Contra, Moreno, Tomic – Männer aus Stahl – zerflossen in ihrem eigenen Leid. Dann trat Jordi Cruyff auf die Bühne. Sein Blick klebte auf dem Boden, erst als ihm Uefa-Boss Lennart Johannson das Silber um den Hals hing, schaute er kurz mit leeren Augen nach oben. Dann setzte er zum wohl härtesten Meter seiner Karriere an. An dessen Ende fiel er dem nächsten Offiziellen in die Arme. Beide küssten sich zärtlich auf die Wange, tauschten ein paar leise Worte aus, Jordi legte schließlich seinen Kopf auf den feinen Anzug des Würdenträgers. Dann trat er von der großen Fußballbühne ab. Sein Karriere glühte schließlich in der Ukraine und auf Malta aus. Der Mann im Anzug sah ihm an diesem Abend traurig hinterher. Es war sein Vater: Johan Cruyff!