Zehn­tau­sende Men­schen säumten die engen Straßen, an den Bür­ger­steigen drängten Kinder nach vorne, um besser sehen zu können, und als die Wagen vor­bei­fuhren, schwenkten sie ihre Fahnen, winkten und applau­dierten. Es war einer der größten und glück­lichsten Tage in der Nach­kriegs­ge­schichte der kleinen Stadt im Süd­osten Eng­lands. Es war der Tag, an dem die Queen nach Ips­wich kam.

Ein Jahr später steht ein Reporter mit Schie­ber­mütze vor einem Mann mit Kra­watte und fragt: Wie fühlen Sie sich?“, und der Mann ant­wortet nichts weiter als: Ich fühle mich gut. Und ich freue mich. Ich freue mich für alle.“ Er sieht zufrieden aus, das schon, aber er wirkt nicht wie jemand, dem gerade die größte Sen­sa­tion der eng­li­schen Fuß­ball­ge­schichte gelungen ist. Eher wie einer, der das gute Wetter genießt und die Wellen des Orwell-Rivers beob­achtet.

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Alf Ramsey war nie ein Groß­spre­cher, manchmal haben sie ihn wegen seiner intro­ver­tierten Art als arro­gant bezeichnet, sein Spitz­name war General“. Andere sagten, seine leise Art sei ein Aus­druck von Beschei­den­heit und Demut. Bis zu seinem Tod bewohnte er eine gewöhn­liche Drei­zim­mer­woh­nung in Ips­wich. Bei öffent­li­chen Ver­an­stal­tungen ließ er sich nach seiner Fuß­ball­kar­riere fast nie mehr bli­cken. Seine Grab­stätte befindet sich in einer ver­steckten Ecke des Fried­hofs. Kein Pomp, kein Glanz, nur ein grauer Stein, viel kleiner als die anderen um ihn herum. Darauf die Worte seiner Witwe: My dearly loved hus­band Sir Alfred Ramsey 1920 – 1999“.

1966 machte Alf Ramsey Eng­land zum Welt­meister. Es ist bis heute der ein­zige Titel der Three Lions. 1967 schlug ihn die Königin zum Ritter. Er war nach Stanley Matthews der zweite Fuß­baller, der sich Sir nennen durfte.

Aber der größte Coup gelang Ramsey 1962, als er mit Ips­wich Town die eng­li­sche Meis­ter­schaft gewann. Er hatte das Team 1955 in der Dritten Liga über­nommen, zwei Jahre später stieg Ips­wich in die Second Divi­sion auf und 1961 in die First Divi­sion, damals die höchste Spiel­klasse Eng­lands. Es war das ein­zige Mal, dass ein Auf­steiger in seiner Pre­mie­ren­saison in einer bedeu­tenden euro­päi­schen Liga auf Anhieb Meister werden konnte. (Der 1. FC Kai­sers­lau­tern und Not­tingham Forest wurden etwa auch als Auf­steiger Meister, hatten aber zuvor schon mal in der Bun­des­liga bzw. First Divi­sion gespielt.)

Alf brachte den intel­li­genten Fuß­ball nach Ips­wich. Er formte den den­kenden Spieler.“

Billy Wright

Ips­wich war keiner der schil­lernden eng­li­schen Tra­di­ti­ons­ver­eine. Erst 1938 trat der Klub der Foot­ball League bei, die schon 50 Jahre exis­tierte. Das Sta­dion an der Portman Road war klein und spar­ta­nisch. Geld gab es von einer lokalen Brauerei.

Die Ver­eins­ver­ant­wort­li­chen hofften, dass Ramsey, der wenige Wochen zuvor seine aktive Kar­riere bei Tot­tenham beendet hatte, als Spie­ler­trainer anfangen würde. Ramsey aber wollte sich auf seine Trai­ner­auf­gaben kon­zen­trieren. Auch Wilf Grant, der mit Ramsey bei Sout­hampton zusam­men­ge­spielt hatte und nun Teil von Ips­wichs Trai­ner­team war, sagte: Alf sollte nicht spielen, er muss der Boss an der Linie sein.“ Ramsey ehe­ma­liger Natio­nal­mann­schafts­kol­lege Billy Wright sagte später: Alf brachte den intel­li­genten Fuß­ball nach Ips­wich – und er formte den­kende Profis.“

Ramsey war einer der ersten Ver­tei­diger gewesen, der die Bälle nicht nur nach vorne kickte, son­dern eine Art Spiel­aufbau von hinten ver­suchte. Er galt als solider Spieler, aber er war auch recht langsam, flinke Flü­gel­spieler düpierten ihn beson­ders gerne, wes­halb er sie zu hassen lernte. Auch des­halb, so geht die Legende, ließ er ohne Flü­gel­stürmer spielen. Sein Meis­ter­team von 1962 war sozu­sagen der Pro­totyp des Wing­less Won­ders“, mit dem er vier Jahre später Welt­meister wurde.

Außerdem war Ips­wich Town 1962 ein No-Name-Team. Ray Craw­ford war ein Ergän­zungs­spieler in der Natio­nal­mann­schaft, sonst bestand das Team aus älteren Spie­lern oder Profis, die bei anderen Ver­einen aus­sor­tiert wurden. Gerade mal 30.000 Pfund gab Ramsey für Neu­zu­gänge aus. Zum Ver­gleich: Tot­tenham Hot­spur musste in jenem Sommer nur für Jimmy Gre­aves, der vom AC Mai­land zurück nach Eng­land kehrte, mehr als dreimal so viel auf den Tisch legen.

Für die Buch­ma­cher war die Sache von Anfang an klar: Ips­wich galt als Abstiegs­kan­didat Nummer eins. Und der Sai­son­start gab ihnen Recht, aus den ersten drei Spielen holte der Auf­steiger nur einen Punkt.

Dann aber kam das Spiel gegen Burnley, damals eine große Nummer in Eng­land. 1960 war der Klub Meister geworden, 1961 immerhin Vierter. Am 29. August 1961, dem vierten Spieltag der Saison, über­rollte Ips­wich die deko­rierten Nord­eng­länder. 6:2 stand es am Ende. Ray Craw­ford schoss seine ersten zwei Sai­son­tore. 31 in der Liga und vier im Pokal sollten folgen. Zusammen mit Ted Phil­ipps (28 Tore) bil­dete er in jenem Jahr das gefähr­lichste Sturmduo Europas.

Alf zeigte keine Emo­tion. Man konnte nicht erahnen, ob wir Meister geworden oder abge­stiegen waren.“

John Cobbold

Ips­wich und Burnley lie­ferten sich bis zum Sai­son­ende ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Meis­ter­schaft. Am letzten Spieltag gewann Ips­wich gegen Aston Villa 2:0, wäh­rend Burnley nur Unent­schieden gegen Chelsea spielte. Kurz darauf gab Ramsey dem Schie­ber­müt­zen­re­porter das legen­däre Inter­view, und dann, so erin­nerte sich der dama­lige Chairman John Cob­bold, spa­zierte er einsam über den Rasen der Portman Road. Die Zuschauer waren längst nach Hause gegangen. Alf zeigte über­haupt keine Emo­tion. Man konnte nicht erahnen, ob wir 6:0 gewonnen oder 0:6 ver­loren hatten, ob wir Meister geworden oder abge­stiegen waren.“

Die Mann­schaft fuhr, wie die Queen ein Jahr zuvor, durch die Stadt. Wieder säumten die jubelnden Men­schen die Straßen, wieder winkten sie und schwenkten Fahnen. Aber es herrschte keine Hys­terie. Für eine kleine Feier fuhr die Mann­schaft schließ­lich nach Felix­stowe, ein kleines Hafen­städt­chen 15 Meilen süd­lich von Ips­wich. In einer Gast­stätte sprach Alf Ramsey einen Toast aus. Craw­ford erin­nerte sich: Auf der Bühne spielte eine Band, aber nicht wegen uns. Wir fragten sie, ob sie einen Song für uns spielen könnten, aber sie lehnten ab. Danach tranken wir sehr viel.“

Die fol­gende Saison begann desas­trös. Von den ersten 14 Spielen konnte Ips­wich nur zwei gewinnen. An Alf Ramsey zwei­felte trotzdem nie­mand, er war längst ein Klub­hei­liger geworden. Und als er am 24. Oktober 1962 seinen Platz­wart Freddie Blake fragte, ob er seinen Wagen putzen könnte, tat der das umge­hend. Er fuhr einen ein­fa­chen Ford, den er schon länger nicht mehr sauber gemacht hatte“, sagte Blake. Tags drauf aber, so erklärte er mir, würde er einen spe­zi­ellen Gast emp­fangen, den er mit seinem Auto am Bahnhof abholen müsse.“

Es stellte sich heraus, dass dieser spe­zi­elle Gast ein Mit­ar­beiter des eng­li­schen Fuß­ball­ver­bands war. Er kam nach Ips­wich, um Ramsey abzu­werben. Später sagte Blake, er habe sich oft gewünscht, dass er den Wagen nicht sauber gemacht hätte.