Alf Ramsey wurde mit England 1966 Weltmeister. Die größere Sensation schaffte er aber vier Jahre zuvor, als er Ipswich Town von der dritten in die erste Liga führte und Meister wurde. Heute wäre er 100 Jahre alt geworden.
Zehntausende Menschen säumten die engen Straßen, an den Bürgersteigen drängten Kinder nach vorne, um besser sehen zu können, und als die Wagen vorbeifuhren, schwenkten sie ihre Fahnen, winkten und applaudierten. Es war einer der größten und glücklichsten Tage in der Nachkriegsgeschichte der kleinen Stadt im Südosten Englands. Es war der Tag, an dem die Queen nach Ipswich kam.
Ein Jahr später steht ein Reporter mit Schiebermütze vor einem Mann mit Krawatte und fragt: „Wie fühlen Sie sich?“, und der Mann antwortet nichts weiter als: „Ich fühle mich gut. Und ich freue mich. Ich freue mich für alle.“ Er sieht zufrieden aus, das schon, aber er wirkt nicht wie jemand, dem gerade die größte Sensation der englischen Fußballgeschichte gelungen ist. Eher wie einer, der das gute Wetter genießt und die Wellen des Orwell-Rivers beobachtet.
Alf Ramsey war nie ein Großsprecher, manchmal haben sie ihn wegen seiner introvertierten Art als arrogant bezeichnet, sein Spitzname war „General“. Andere sagten, seine leise Art sei ein Ausdruck von Bescheidenheit und Demut. Bis zu seinem Tod bewohnte er eine gewöhnliche Dreizimmerwohnung in Ipswich. Bei öffentlichen Veranstaltungen ließ er sich nach seiner Fußballkarriere fast nie mehr blicken. Seine Grabstätte befindet sich in einer versteckten Ecke des Friedhofs. Kein Pomp, kein Glanz, nur ein grauer Stein, viel kleiner als die anderen um ihn herum. Darauf die Worte seiner Witwe: „My dearly loved husband Sir Alfred Ramsey 1920 – 1999“.
1966 machte Alf Ramsey England zum Weltmeister. Es ist bis heute der einzige Titel der Three Lions. 1967 schlug ihn die Königin zum Ritter. Er war nach Stanley Matthews der zweite Fußballer, der sich Sir nennen durfte.
Aber der größte Coup gelang Ramsey 1962, als er mit Ipswich Town die englische Meisterschaft gewann. Er hatte das Team 1955 in der Dritten Liga übernommen, zwei Jahre später stieg Ipswich in die Second Division auf und 1961 in die First Division, damals die höchste Spielklasse Englands. Es war das einzige Mal, dass ein Aufsteiger in seiner Premierensaison in einer bedeutenden europäischen Liga auf Anhieb Meister werden konnte. (Der 1. FC Kaiserslautern und Nottingham Forest wurden etwa auch als Aufsteiger Meister, hatten aber zuvor schon mal in der Bundesliga bzw. First Division gespielt.)
„Alf brachte den intelligenten Fußball nach Ipswich. Er formte den denkenden Spieler.“
Ipswich war keiner der schillernden englischen Traditionsvereine. Erst 1938 trat der Klub der Football League bei, die schon 50 Jahre existierte. Das Stadion an der Portman Road war klein und spartanisch. Geld gab es von einer lokalen Brauerei.
Die Vereinsverantwortlichen hofften, dass Ramsey, der wenige Wochen zuvor seine aktive Karriere bei Tottenham beendet hatte, als Spielertrainer anfangen würde. Ramsey aber wollte sich auf seine Traineraufgaben konzentrieren. Auch Wilf Grant, der mit Ramsey bei Southampton zusammengespielt hatte und nun Teil von Ipswichs Trainerteam war, sagte: „Alf sollte nicht spielen, er muss der Boss an der Linie sein.“ Ramsey ehemaliger Nationalmannschaftskollege Billy Wright sagte später: „Alf brachte den intelligenten Fußball nach Ipswich – und er formte denkende Profis.“
Ramsey war einer der ersten Verteidiger gewesen, der die Bälle nicht nur nach vorne kickte, sondern eine Art Spielaufbau von hinten versuchte. Er galt als solider Spieler, aber er war auch recht langsam, flinke Flügelspieler düpierten ihn besonders gerne, weshalb er sie zu hassen lernte. Auch deshalb, so geht die Legende, ließ er ohne Flügelstürmer spielen. Sein Meisterteam von 1962 war sozusagen der Prototyp des „Wingless Wonders“, mit dem er vier Jahre später Weltmeister wurde.
Außerdem war Ipswich Town 1962 ein No-Name-Team. Ray Crawford war ein Ergänzungsspieler in der Nationalmannschaft, sonst bestand das Team aus älteren Spielern oder Profis, die bei anderen Vereinen aussortiert wurden. Gerade mal 30.000 Pfund gab Ramsey für Neuzugänge aus. Zum Vergleich: Tottenham Hotspur musste in jenem Sommer nur für Jimmy Greaves, der vom AC Mailand zurück nach England kehrte, mehr als dreimal so viel auf den Tisch legen.
Für die Buchmacher war die Sache von Anfang an klar: Ipswich galt als Abstiegskandidat Nummer eins. Und der Saisonstart gab ihnen Recht, aus den ersten drei Spielen holte der Aufsteiger nur einen Punkt.
Dann aber kam das Spiel gegen Burnley, damals eine große Nummer in England. 1960 war der Klub Meister geworden, 1961 immerhin Vierter. Am 29. August 1961, dem vierten Spieltag der Saison, überrollte Ipswich die dekorierten Nordengländer. 6:2 stand es am Ende. Ray Crawford schoss seine ersten zwei Saisontore. 31 in der Liga und vier im Pokal sollten folgen. Zusammen mit Ted Philipps (28 Tore) bildete er in jenem Jahr das gefährlichste Sturmduo Europas.
„Alf zeigte keine Emotion. Man konnte nicht erahnen, ob wir Meister geworden oder abgestiegen waren.“
Ipswich und Burnley lieferten sich bis zum Saisonende ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Meisterschaft. Am letzten Spieltag gewann Ipswich gegen Aston Villa 2:0, während Burnley nur Unentschieden gegen Chelsea spielte. Kurz darauf gab Ramsey dem Schiebermützenreporter das legendäre Interview, und dann, so erinnerte sich der damalige Chairman John Cobbold, spazierte er einsam über den Rasen der Portman Road. Die Zuschauer waren längst nach Hause gegangen. „Alf zeigte überhaupt keine Emotion. Man konnte nicht erahnen, ob wir 6:0 gewonnen oder 0:6 verloren hatten, ob wir Meister geworden oder abgestiegen waren.“
Die Mannschaft fuhr, wie die Queen ein Jahr zuvor, durch die Stadt. Wieder säumten die jubelnden Menschen die Straßen, wieder winkten sie und schwenkten Fahnen. Aber es herrschte keine Hysterie. Für eine kleine Feier fuhr die Mannschaft schließlich nach Felixstowe, ein kleines Hafenstädtchen 15 Meilen südlich von Ipswich. In einer Gaststätte sprach Alf Ramsey einen Toast aus. Crawford erinnerte sich: „Auf der Bühne spielte eine Band, aber nicht wegen uns. Wir fragten sie, ob sie einen Song für uns spielen könnten, aber sie lehnten ab. Danach tranken wir sehr viel.“
Die folgende Saison begann desaströs. Von den ersten 14 Spielen konnte Ipswich nur zwei gewinnen. An Alf Ramsey zweifelte trotzdem niemand, er war längst ein Klubheiliger geworden. Und als er am 24. Oktober 1962 seinen Platzwart Freddie Blake fragte, ob er seinen Wagen putzen könnte, tat der das umgehend. „Er fuhr einen einfachen Ford, den er schon länger nicht mehr sauber gemacht hatte“, sagte Blake. „Tags drauf aber, so erklärte er mir, würde er einen speziellen Gast empfangen, den er mit seinem Auto am Bahnhof abholen müsse.“
Es stellte sich heraus, dass dieser spezielle Gast ein Mitarbeiter des englischen Fußballverbands war. Er kam nach Ipswich, um Ramsey abzuwerben. Später sagte Blake, er habe sich oft gewünscht, dass er den Wagen nicht sauber gemacht hätte.