Der Aufstieg von Union Berlin war ein großes, mitreißendes Fußballdrama. Mit einer magischen 77. Minute, in der die Angst für einen kurzen Augenblick der Heiterkeit wich.
Es war ja alles total irre an diesem 27. Mai: diese Anspannung, dieses Geschrei, und die Angst vor dem Scheitern im letzten Moment, die wie eine Wolke über dem Stadion an der Alten Försterei lag. Der 1.FC Union Berlin spielte gegen den VfB Stuttgart, und aus Berliner Sicht reichte es, wenn einfach nichts passieren würde. Kein Tor, Nullzunull, Aufstieg! Zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte in der Bundesliga! Schließlich war das Hinspiel 2:2 ausgegangen, die Auswärtstore würden reichen. Andererseits: Würde irgendein ungeschickt abgefälschter Ball doof über die Torlinie trudeln, aus wäre der Traum.
Die Leute hielten das nicht aus, überhaupt nicht. Sie wollten so sehr, dass es endlich klappt, was das Ganze nur noch schlimmer machte. Sie sangen ihr Gesangbuch herunter, und fingen wieder von vorne an. Wechselgesänge („Eisern“ – „Union“ – „Eisern“ …) und Choräle, in denen es darum ging, dass die Zeit nun gekommen sei. Nur, sicher war das eben in keiner der 90 Minuten und auch in keinem Moment der Nachspielzeit. Stuttgart drückte und drängte, Union wehrte sich aufopferungsvoll.
Freistoß? Mattuschka!
Auf den Rängen kauten sie Fingernägel, zündeten Kerzen in ihrer inneren Fußballkirche an. Atheisten beteten, Christen beschworen den Fußballgott. Und gemeinsam sangen sie den nächsten Psalm: „Dem Morgengrauen entgegen, zieh’n wir gegen den Wind.“ Wie lange war noch zu spielen? Jahre, in denen sie alle grau wurden, zernagt von der Angst, dass doch noch was schief…! Doch dann kam die 77. Minute und aus dem Sumpf der Sorgen, der alle zu verschlingen schien, entstieg auf einmal Heiterkeit.
Es war keine Schwarmintelligenz, sondern Schwarmhumor. Der Schiedsrichter hatte bei einem der raren Berliner Ausbrüche aus der Stuttgarter Belagerung einen Freistoß vor dem gegnerischen Tor erkämpft. Und in Hunderten, ach was: Tausenden Köpfen ging wie beim Pavlovschen Hund das gleiche Reiz-Reaktion-Schema ab: Freistoß? Mattuschka!
„Hau ihn rein für den Verein!“
Die Fans von Union Berlin lieben diesen Torsten Mattuschka, weil er ist wie wir alle. Als Spieler war er ein Held mit Schwächen, etwa der für sportungerechte Ernährung, weshalb er immer ein paar Kilo zu viel auf den Hüften hatten. Wäre er nicht „faul wie die Sünde“ (Selbsteinschätzung) gewesen, vielleicht wäre er auf der ganz großen Bühne gelandet. Nur, wer weiß das schon? So aber verzauberte er die Menschen an der Alten Försterei mit den schönsten Freistößen, die es in der Zweiten Liga (und früher auch der dritten) zu sehen gab. Vor allem beim ersten Punktspielderby im Olympiastadion, als Union bei Hertha BSC mit 2:1 siegte.
Schon damals gab es einen Gesang zu seinen Ehren, in dem es hieß: „Torsten Mattuschka, du bist der bester Mann. Torsten Mattuschka, du kannst, was keiner kann. Hau ihn rein für den Verein!“ So hatten sie damals gesungen, und dieser Torsten Mattuschka hatte ihn wirklich reingehauen – zum Siegtor.