Wie Messi, Suarez und Ter Stegen durch die Geistesgegenwart eines 14-Jährigen aus der Champions League flogen: Unser Autor verneigt sich vor einem Balljungen.
Auch 2019 wurde ja wieder viel übers Handspiel geredet. Dortmunds Trainer Lucien Favre sprach vom „größten Skandal seit Jahren“, Frankfurts Manager Fredi Bobic nannte die Auslegung der Regel „willkürlich und abenteuerlich“, selbst der ehemalige Schiedsrichter Thorsten Kinhöfer fragte frustriert: „Wer blickt da noch durch?“
Wie passend, dass der verrückteste, herrlichste, überraschendste Fußball-Moment des Jahres – wenn man unter „Moment“ wirklich nur einen kurzen Augenblick versteht – ein Handspiel war. Begangen wurde es am 7. Mai um 22:38 Uhr. Von jemandem mit dem angemessen spektakulären Namen Oakley Cannonier. Und das Verrückteste daran: Er hatte es schon am Tag vorher geplant.
Ein Strohhalm für Liverpool
Beginnen wir die Geschichte also am Montag, dem 6. Mai, und mit Carl Lancaster. Seit 2013 arbeitet Lancaster als Trainer in der Nachwuchsakademie des FC Liverpool. Zu seinen Aufgaben gehört es dabei auch, die Balljungen des Klubs zu koordinieren, denn die kommen immer aus Jugendmannschaften des Vereins. An diesem Montag rief Lancaster die Jungs zusammen, die sich am nächsten Tag beim Halbfinalrückspiel der Champions League gegen Barcelona um die Bälle kümmern sollten.
Die Burschen wussten natürlich, wie aussichtslos Liverpools Lage war. Die Engländer mussten gegen das große Barça um Lionel Messi ein 0:3 aufholen. In einer solchen Situation greift man nach jedem Strohhalm, und eben darum sprach Lancaster nun die Balljungen an. Jürgen Klopps Videoanalysten, begann er, war etwas aufgefallen. Bei Spielunterbrechungen wirkten Barcelonas Profis manchmal abgelenkt. Sie beschwerten sich in solchen Momenten gerne beim Schiedsrichter oder sprachen untereinander. Das konnte man ausnutzen.
Videoschulung für Balljungen
Anschließend zeigte Lancaster den jungen Nachwuchsspielern ein paar Ausschnitte aus dem Viertelfinale zwischen Liverpool und Porto. Die Engländer hatten sich in diesem Duell problemlos durchgesetzt, aber das hieß ja nicht, dass alles perfekt gewesen war. Die Jungs bekamen Spielszenen zu sehen, in denen sie es versäumt hatten, den Ball schnell zurück ins Spiel zu bringen. Lancaster schärfte ihnen ein, dass man sich solche Fehler gegen Barcelona nicht erlauben durfte. Wenn das Wunder wahr werden sollte, mussten auch die Balljungen ihren Teil beitragen.
Wir wissen nicht, wie überzeugt Lancaster davon war, dass Liverpool vielleicht wirklich nur eine gute Aktion eines Balljungen zum Wunder fehlte. Einerseits dürfte er Realist genug sein, um das Ausscheiden innerlich schon abgehakt zu haben. Schließlich musste Liverpool ja nicht bloß gegen eine der gefährlichsten Kontermannschaften der Welt um jeden Preis ein Heimgegentor vermeiden. Sondern die Engländer brauchten selbst mindestens drei Treffer – und das ohne Mo Salah und Roberto Firmino.