Lange, bevor es FIFA18 gab, brauchten Zocker zum Schießen, Grätschen und Passen nur eine einzige Taste. Und noch immer kämpfen jedes Jahr Menschen aus aller Welt um den WM-Titel im 1990 erschienenen Videospiel „Kick Off 2“. Auf Amiga-Computern und mit heiligem Ernst.
Beim Thema Übertragungsrate versteht der Rekordweltmeister keinen Spaß. „Ich spiele nicht auf LCD“, sagt Gianni Torchio entschlossen. Der Mittvierziger aus Mailand nickt abschätzig in Richtung des einzigen LCD-Fernsehers im Raum, bevor seine Gesichtszüge dann wieder ihre übliche Weichheit annehmen und er in ruhigen Worten zu einem Spontanreferat über die technischen Probleme ansetzt, die entstehen, wenn man ein 27 Jahre altes Computerspiel auf einem zu modernen Fernseher spielt. Es geht um den richtigen Adapter, die 65 000 x 65 000 Positionen, in denen sich der Ball befinden kann, serielle und parallele Schnittstellen sowie die offensichtlichen Vorzüge älterer Röhrenfernseher.
„Ist die Reaktionszeit der Spieler verzögert, kannst du das Spiel vergessen. Auf diesem Niveau entscheiden die Feinheiten“, sagt Torchio, der einen Achtziger-Jahre-Joystick um den Hals hängen hat wie eine ungebundene Krawatte, und sich nach seinen Ausführungen schnell an einen der anderen, älteren Fernseher verdrückt, bei denen nichts an Übertragung verlorengeht. Will man seinen fünften Weltmeistertitel gewinnen, muss eben alles passen.
Passen, Schießen, Grätschen? Eine Taste!
Man sieht es Torchio nicht unbedingt an, aber er ist einer von wenigen Menschen auf der Welt, die mit Recht von sich behaupten können, in einer bestimmten Disziplin zur absoluten Weltklasse zu gehören. Andererseits gilt das auch für alle anderen Anwesenden in diesem nach Moschus und Kaffee riechenden Raum im schwedischen Landskrona, was ganz einfach der Tatsache geschuldet ist, dass ihre Disziplin von einer überschaubaren Anzahl an Menschen überhaupt noch ausgeübt wird: Diese 32 Männer spielen die Weltmeisterschaft im Kick Off 2 aus, einer Fußballsimulation, die 1990 für Amiga und Atari erschien. Kick Off 2 erfreute sich nach Erscheinen großer Beliebtheit, damalige Fachzeitschriften sprachen von „einem echten Weltmeister“ unter den Games.
Das Spielfeld wird von oben gezeigt, fürs Schießen, Passen und Grätschen benötigt man nur eine einzige Taste, und sieht man das Spiel 27 Jahre nach Erscheinen zum ersten Mal, ist es schwer, mehr als nur eine Ansammlung hektisch hin- und herflitzender Pixel auf einem fußballplatzartigen Hintergrund zu erkennen. Warum also erfreut sich dieses Videospiel, das seinerzeit nur eine von vielen Fußballsimulationen war, noch 27 Jahre nach Erscheinen einer derartigen Beliebtheit, dass noch immer Menschen aus aller Welt zusammentreffen, um den Weltmeister zu ermitteln? Dass es eigene Statistikseiten gibt, die sämtliche – tausende – offiziellen Spiele erfassen und mit einem komplexen Koeffizienten eine Weltrangliste erstellen? Dass eine Handvoll Enthusiasten eine „Kick Off Association“ gegründet haben?
Oliver Stender weiß die Antwort. „Die Spielphysik“, sagt er. Stender, braune Haare, 1,70 Meter groß, gilt unter den Experten, die gleichsam seine Kollegen sind, als bester deutscher Spieler, auch wenn er das niemals selbst von sich behaupten würde. In diesem Jahr tritt er spaßeshalber für Georgien an, weil er sich im Urlaub in das Land verliebt hat. Darüber witzeln seine Kollegen, insgesamt sprechen sie allerdings ziemlich ehrfürchtig von ihm. Stender macht gerne Witze und wiederholt seine Pointen dann, während er lacht. Doch kommt das Thema auf Kick Off 2 – und das tut es natürlich oft – spricht er mit heiligem Ernst und in feinstem Fußballersprech. „Der Unterschied zu anderen Spielen ist, dass der Ball nicht am Fuß des Avatars klebt, sondern davon wegspringt. Das sorgt für unendlich viele Möglichkeiten, wie sich die jeweilige Spielsituation entwickelt. Deswegen ist jede Partie anders als alle vorigen. Diese Tiefe hat man sonst in keinem Spiel“, sagt Stender, und schiebt hinterher: „Man muss vom Kopf her immer voll da sein.“
„Mit mir ist zu rechnen“
Seinen ersten Amiga bekam er als Weihnachtsgeschenk Ende der Achtziger, mittlerweile besitzt er drei. Einer davon steht an seinem Arbeitsplatz, was entscheidend dafür sein dürfte, dass Stender in vielen dieser unendlich vielen Spielsituationen bessere Entscheidungen trifft als seine Kollegen. „Ich habe einen Arbeitskollegen, mit dem ich in der Mittagspause oder nach Feierabend spiele, insgesamt knapp vier, fünf Stunden pro Woche.“ Das regelmäßige Training, das die meisten anderen Anwesenden in Ermangelung eines geeigneten Spielpartners nicht haben, hat dazu geführt, „dass mit mir zu rechnen ist“, wie Stender es ausdrückt.
Dass er sich als IT-Fachmann im Alltag mit absoluter State-of-the-Art-Technologie beschäftigt, sich in seiner Freizeit aber leidenschaftlich einem pixeligen Neunziger-Jahre-Spiel zuwendet, ist für ihn kein Widerspruch. „Ich kann doch als Autonarr auch auf Oldtimer stehen.“ Seit 2005 kommt er zu den Turnieren, zum Titel hat es allerdings noch nicht gereicht. Seine beste Platzierung war ein Dritter Platz vor ein paar Jahren, da habe er rausgehen und ein wenig weinen müssen. „Wie Franz Beckenbauer 1990, als er in Rom alleine über den Platz gelaufen ist“, sagt Stender und wiederholt lachend: „Wie Franz Beckenbauer.“