Am 26. Mai 1999 war lange Zeit alles gut für Bayern-Fans. Dann kam Teddy Sheringham und dann kam Ole Gunnar Solskjær: Hier kommt unsere große Bayern-ManUnited-Reportage zur Mutter aller Niederlagen.
Im schummerigen Licht der Stadionkatakomben gehen schweigend zwei Männer. Alles ist gesagt in dieser Nacht in Barcelona. Ottmar Hitzfeld hat die lästige Pflicht der Pressekonferenz mit der ihm eigenen unverbindlichen Professionalität erledigt. Ein Golfwägelchen mit Chauffeur, das den General und seinen Pressesprecher, Markus Hörwick, zurück zur Bayern-Umkleide fahren sollte, hat er stehen lassen. „Lass uns ein paar Schritte gehen“, hat Hitzfeld gesagt.
Das monumentale Camp Nou ist fast wieder menschenleer, als sie den Weg zurück antreten. Während sie über den gelben Betonfußboden in Richtung Umkleidekabinen schlendern, sehen sie plötzlich zwei Gestalten, die im Halbdunkel in einigem Abstand vor ihnen laufen. Allmählich kommen sie den vorausgehenden Männern immer näher. Nur noch ein paar Meter. Da erkennt Hörwick, wer außer ihnen noch durch die verlassenen Gänge wandert: Alex Ferguson und sein PR-Assistent haben wie ihre Münchner Kollegen ebenfalls den Lift der UEFA-Hilfskräfte ausgeschlagen.
Als die Briten mitbekommen, wer ihnen auf den Fersen ist, halten sie kurz inne. Hitzfeld und Hörwick schließen auf, bis die Trainer sich gegenüberstehen. In devoter Zurückhaltung treten die beiden Pressesprecher wie zwei Adjutanten hinter ihre Feldherren zurück. „Ein Moment wie aus ›High Noon‹“, erinnert sich Markus Hörwick. Alex Ferguson blickt seinem Rivalen lange in die Augen, dann schließt er die Arme um ihn und sagt leise: „Sorry.“ Ohne ein weiteres Wort setzen sie ihren Weg fort. In dieser lauen katalanischen Nacht. Nach diesem größten anzunehmenden Drama in der Geschichte des Fußballs. „Sorry, Ottmar, sorry!“
„I want all the world to see a miracle sensation.“
20:24:01 Uhr Das Vorprogramm ist im vollen Gange. Camp Nou platzt mit 90 000 Zuschauern aus allen Nähten, als Operndiva Montserrat Caballé „Barcelona“ schmettert, die Hymne der Olympischen Spiele 1992. Auf der Anzeigetafel erscheint Freddie Mercury, ihr verstorbener Duettpartner. Er singt: „I want all the world to see a miracle sensation.“ Sein Wille ist heute zum Teil schon in Erfüllung gegangen, denn der FC Bayern hat vor dem Anpfiff einen Überraschungssieg gefeiert: Für ein 20-minütiges Warm-up durften beide Finalisten ihr eigenes Unterhaltungsprogramm mitbringen.
Für die 30 000 mitgereisten Bayern-Fans hat der Klub die Spider Murphy Gang einfliegen lassen. Und als Günther Sigl und Barney Murphy am Ende ihres Sets „Skandal im Sperrbezirk“ anstimmen, steppt nicht nur im Bayern-Block der Bär. Auch die britischen Fans macht der „Skandal um Rosie“ ganz wuschig, selbst das Gros der angesäuerten Katalanen, die den Münchnern bis zum Spieltag noch die Vorrunden-Heimniederlage ihres FC Barcelona verübelt haben, gehen bei dem bajuwarischen Dirnenepos euphorisch mit.
„Große Geheimnisse gab es keine mehr“
47 Stunden warten die Bayern-Spieler in der spanischen Hafenstadt nun schon auf ihren großen Auftritt. Zweimal hat die Mannschaft in der Vorrunde der Champions League gegen Manchester United gespielt, zweimal ging das Spiel unentschieden aus – diese beiden Teams sind sich ebenbürtig. Ottmar Hitzfeld sagt: „Große Geheimnisse gab es keine mehr, beide Teams hatten ihren Gegner eingehend studiert, wir kannten uns sehr gut und wussten, dass in Barcelona die Tagesform eine wichtige Rolle spielt.“
Am Morgen um 11 Uhr findet die obligatorische Mannschaftsbesprechung statt. Das Flipchart im Besprechungsraum hat genauso wie die Worte, die gesprochen werden, an diesem Tag eher Alibicharakter. Alles ist gesagt. Und doch weisen Hitzfeld und Co-Trainer Michael Henke nochmals auf ein besonderes Merkmal im Spiel der Briten hin: „Sie verstehen Eckbälle als Torchance. Die englischen Fans haben das verinnerlicht, die gehen bei Ecken hoch, als gäbe es einen Freistoß direkt vor der Strafraumgrenze“, erinnert sich Henke.
20:49:21 Uhr „Es kommt mir vor, als würde mir der David Beckham im Mittelfeld immer wieder nachrennen“, sagt Stefan Effenberg. Das Spiel läuft. Coach Alex Ferguson hat Beckham von Rechts auf Halblinks ins Mittelfeld gezogen, er soll überraschende Akzente nach vorne setzen und sich zugleich um den Spielmacher der Bayern kümmern. Bei Michael Tarnat, der beim Frühstück nicht essen mochte und mit Herzklopfen ins Stadion fuhr, hat sich die Nervosität gelegt. „Man denkt die ganze Zeit: Hoffentlich mach’ ich alles richtig“, erinnert sich Tarnat. Nun läuft das Spiel – und er verrichtet zuverlässig seine Arbeit. „Da löst sich die Anspannung, und Routine setzt ein“, sagt Tarnat.
20:51:16 Uhr Sechs Minuten sind gespielt, da pfeift Schiedsrichter Pierluigi Collina Freistoß für den FC Bayern. 18 Meter bis zum Tor – das ist Mario Baslers Distanz. Eine Siebenmannmauer bildet sich, Basler legt sich liebevoll den Ball zurecht. Stefan Effenberg joggt zu ihm. „Mario! Die stehen zu weit links!“ Basler hat das längst gesehen. „Den mach’ ich rein! Den mach’ ich rein“, denkt er. Er läuft an, trifft den Ball mit dem rechten Innenspann, Markus Babbel stemmt Nicky Butt aus der Schussbahn, sieht den Ball an sich vorbeirauschen, Keeper Peter Schmeichel kann nur staunen, unten rechts schlägt das Ding ein. 1 : 0! Das frühe Tor! Alles läuft nach Plan! Basler wirft sich auf die Knie, rutscht über den Rasen und ballt die Fäuste. Sammy Kuffour ist als Erster bei ihm, dann kommt Effenberg und legt seinen Kopf auf Baslers Schulter. PR-Chef Markus Hörwick sagt: „Wir hatten das Vorspiel gewonnen – und nach sechs Minuten sah es fast so aus, als würden wir auch das Hauptspiel gewinnen.“
„Wir hätten längst 3 : 0 führen müssen“
22:07:34 Uhr Ferguson bringt Routinier Teddy Sheringham für Jesper Blomqvist. Nach der gemeinsamen Zeit bei den Tottenham Hotspurs nannte Jürgen Klinsmann Sheringham den „besten Stürmer, mit dem ich je zusammen gespielt habe“.
22:11:42 Uhr Seit mehr als einer Stunde hat der FC Bayern das Spiel im Griff. „Wir hätten längst 3 : 0 führen müssen“, denkt Alexander Zickler bei seiner Auswechslung. Sein Ersatzmann Mehmet Scholl trifft mit einem Flachschuss den Pfosten, Carsten Jancker setzt einen Fallrückzieher an die Latte, Effenberg kann beinahe Schmeichel überlupfen. Günther Jauch, der die Übertragung für RTL moderiert, beobachtet das Geschehen von der Pressetribüne aus. „Die Körpersprache der Bayern signalisiert: Sie fühlen sich wohl und sicher in diesem Spiel“, stellt er fest. Was soll noch schiefgehen? Auf der Ersatzbank sitzt Masseur Fredi Binder, der schon 1982 im Europacupfinale gegen Aston Villa dabei war und den Klub 1987 gegen den FC Porto untergehen sah. Als Jancker um Haaresbreite das Tor verpasst, beschleicht ihn eine düstere Vorahnung: „Es kam mir vor, als würde da heute noch jemand anderes mitspielen.“
22:16:11 Uhr Lothar Matthäus ist 38 Jahre alt. Es ist nicht sein erstes, aber wohl sein letztes großes Finale. Noch einmal hat er alles gegeben, die Rolle des Liberos vor der Abwehr interpretiert, ist viel gelaufen. Doch die Kräfte lassen nach, eine Verletzung im Rücken strahlt in die Oberschenkel. Für Fredi Binder nichts Ungewöhnliches, das Matthäus-Zipperlein, das bei allzu großer Belastung zum Problem werden kann, kennen sie in der medizinischen Abteilung des FC Bayern. „Ich war müde, ich war platt, ich war nicht mehr der Jüngste“, wird Matthäus später sagen. Er signalisiert mehrmals, dass er ausgetauscht werden möchte. Der Trainerstab reagiert routiniert. Schon oft in den beiden zurückliegenden Spielzeiten wurde dieser Tausch vorgenommen: Wenn der Altmeister ausgepumpt ist, ersetzt ihn Thorsten Fink. Leitwolf Effenberg ist nicht gerade begeistert. „Natürlich fragte ich mich, warum er nicht noch zehn Minuten durchhält. Denn seine Auswechslung brachte Unruhe ins Team. Aber was hätte man ihm angelastet, wenn er trotz Verletzung drin geblieben wäre und einen Fehler gemacht hätte?“
„Immer wenn es ernst wird, verpisst der sich!“
22:20:02 Uhr Hitzfeld lässt nun wechseln: Fink kommt für Matthäus. „Immer wenn es ernst wird, verpisst der sich!“, schimpft Mehmet Scholl. Eine gallige Anspielung darauf, dass Matthäus im WM-Finale 1990 Andreas Brehme den Strafstoß schießen ließ. Effenberg bellt die Anweisung, nun noch massiver zu stehen. In den letzten zehn Minuten soll nichts mehr anbrennen. „Kontern“, gibt das Alphatier als Schlachtplan aus. Alex Ferguson holt Andy Cole vom Feld und bringt Ole Gunnar Solskjær. Er beordert David Beckham zurück auf die rechte Seite, der Schachzug, ihn auf Halblinks spielen zu lassen, ist gründlich in die Hose gegangen. Vielleicht schwant ihm schon die Kritik der Medien, die seine Taktik für die Niederlage verantwortlich machen werden.
In England eilt dem Norweger Solskjær der Ruf des „Super-Jokers“ voraus. Der Begriff geistert während der Vorbereitung auf das Finale auch immer wieder durch die Teambesprechungen der Bayern. In einem Spiel gegen Nottingham Forest kam Solskjær einmal zwölf Minuten vor dem Ende und schoss noch vier Tore. In Manchester haben sie ihm einen Kampfnamen gegeben: „The baby-faced Assassin“. Stefan Effenberg macht der Wechsel trotzdem keine Sorgen: „Wieso auch? Wir hatten bis jetzt hinten sicher gestanden, und die Jungs hatten vorher auch Cole und Yorke sehr gut im Griff gehabt.“
22:24:54 Uhr Die Bayern-Bank bereitet den Abpfiff vor. Bei Markus Hörwick fragen die TV-Stationen ihre Flash-Interviews an. Die Fieldreporter wollen Gespräche mit Kapitän Lothar Matthäus, Matchwinner Mario Basler und Torwart Oliver Kahn. Betreuer schaffen Kisten mit frischen Trikots heran, die die Bayern-Profis bei der Siegerehrung nicht so verschwitzt, adretter – kurz: triumphaler – aussehen lassen sollen. Alexander Zickler lupft die Pappe eines Kartons und sieht zahllose Baseballkappen mit der Aufschrift „Champions League-Sieger 1999 – FC Bayern München“.
22:27:01 Uhr Markus Hörwick hat die SMS für den Info-Service eines Mobilfunk-Sponsors vorbereitet. 160 Zeichen totaler Triumph stehen kurz davor, als Breaking News an zahllose Kunden gesimst zu werden: Barcelona, 26. Mai 1999. Bayern am Ziel. Der FC Bayern München ist Champions-League-Sieger 1999. 1:0‑Sieg durch Freistoßtor Mario Basler (6.) Hörwick erwartet den Schlusspfiff: „Ich hatte die SMS auch nach dem Spiel noch fast ein halbes Jahr im Speicher. Dann habe ich sie gelöscht.“
22:29:55 Uhr Hitzfeld erkennt: „Die Auswechslung von Lothar hat uns nicht unbedingt sicherer gemacht.“ Denken seine Spieler nach der Herausnahme des Liberos, das Spiel sei schon gelaufen? Schlendrian stellt sich ein, alarmiert ruft der Coach Hasan Salihamidžić zu sich, will den jungen Kämpfer für den zur Pomadigkeit neigenden Basler bringen. Der „Brazzo“, weiß Hitzfeld, wirft sich zur Not in jeden Schuss.