Anfang der Neunziger fegt Eintracht Frankfurt mit offensivem Fußball durch die Liga. Die Mannschaft bleibt ohne Titel, wird aber dennoch legendär: Denn schöner wurde in der Bundesliga nie gespielt.
Der Text entstammt unserer neuesten Ausgabe 11FREUNDE SPEZIAL „60 Jahre Bundesliga“. Das Heft ist ab sofort am Kiosk sowie bei uns im Shop erhältlich.
Bei Klein-Kusewitz blüht der Raps, als wäre nichts gewesen. Ein Bus hält auf freier Strecke, Eintracht Frankfurt steht darauf, zwei Männer steigen aus. Sie sind Erzfeinde, ein ganzes Jahr lang haben sie gestritten, wieder und wieder, aber das ist in diesem Moment nicht wichtig, wie kaum etwas wirklich wichtig ist in diesem Moment. Es ist ein lauer Sommertag, der zu Ende geht, irgendwo in der Leere von Mecklenburg, zwischen Rostock und Barth, exakt am tiefsten Punkt eines Fußballvereins. Uli Stein und Andreas Möller gehen zum Laderaum und kehren mit einer Kiste Sekt in den Mannschaftsbus zurück, schenken ihn aus, Sekt, der nichts besser, nichts anders machen wird, alles wird so bleiben, wie es niemals hätte kommen dürfen, Prost. Stein legt „The Show Must Go On“ auf, und der Bus fährt weiter Richtung Flughafen.
Es ist der Tiefpunkt von Eintracht Frankfurt, das Trauma von Rostock, die leichtfertig verspielte Meisterschaft 1992. Das 1:2 am letzten Spieltag wird den Verein Jahrzehnte, wahrscheinlich für immer verfolgen, ein Gespenst, ein steter Schatten sein. Und doch ist es auch der Höhepunkt einer Entwicklung, die in Frankfurt wenige Jahre zuvor niemand kommen sieht. Damals, 1989, sitzt Uwe Bein auf der Tribüne des Waldstadions und kaut an den Nägeln. Kurz zuvor wollte er beim HSV noch seine Karriere beenden, in die Oberliga zurückkehren, zu frustriert vom, zu sensibel fürs Profigeschäft. Nun guckt er der Eintracht in der Relegation zu, er hat bei den Hessen unterschrieben, auch für die Zweite Liga. Bein kann Pässe spielen wie sonst niemand im Land, bald wird er Weltmeister werden, aber nur, wenn die Relegation gegen Saarbrücken nicht schiefgeht. Und der FCS ist ein zäher Gegner, dreimal trifft für Saarbrücken: Anthony Yeboah. Es hätte alles anders kommen können, aber die Eintracht bleibt knapp drin.
„Die sieben mageren Jahre sind vorbei, jetzt kommen sieben fette“
Es ist der Start ins Jahr 2000, auch wenn es noch ewig weit weg scheint. Die Achtziger waren hartes Brot, trotz Pokalsieg 1988, nach der Relegation kommen gerade 200 Leute zum Trainingsauftakt. Was soll diese Mannschaft ihnen bieten? Vizepräsident Bernd Hölzenbein sitzt in seinem Büro am Riederwald und grübelt, wie seine Eintracht wieder auf Augenhöhe mit den Bayern kommt, zumindest fast, wie er es als Spieler ja gewohnt war. „Mit Hessen zurück an die Spitze“, ist die Idee. Also holt er Uwe Bein, Ralf Falkenmayer aus Leverkusen, Ralf Weber aus Offenbach. „Die sieben mageren Jahre sind vorbei, jetzt kommen sieben fette“, sagt er. Und unter Jörg Berger ist die SGE plötzlich Tabellenführer, bereits nach 18 Spielen hat sie mehr Tore geschossen als in der gesamten Vorsaison, sie schnuppern 1990 am Titel. Es ist die beste Saison seit einer halben Ewigkeit, Hölzenbeins Idee funktioniert. Nur: Sieben fette Jahre? Es werden zehn vergehen, bis er sagt: „Ein Amt bei Eintracht Frankfurt ist die Hölle.“
Aber der Weg in die Hölle führt durch den Himmel. 1990 kommt Yeboah aus Saarbrücken, Möller aus Dortmund, 1991 wird Berger durch Dragoslav Stepanovic ersetzt. Der Ex-Profi stand davor in seiner Kneipe im Hessencenter am Zapfhahn und trainierte Eintracht Trier. Nun steht er mit Trenchcoat, Sonnenbrille und Zigarillo an der Seitenlinie, halb Mann von Welt, halb Type vom Tresen, die Krawatten so bunt wie der Fußball, der ihm vorschwebt. Und er weiß, was diese Künstler brauchen: die absolute Freiheit. Eine lange Leine und bedingungslose Offensive. „Greif, greif, greif“, ruft er im ersten Training, die Spieler schauen verwundert, bis es ihnen dämmert: Er meint Angreifen. Fortan sind Pressing und schnelles Offensivspiel die Seele des Spiels dieser Mannschaft. „Bei Stepi war es wie Straßenfußball, immer nach vorne“, sagt Manfred Binz.
Aber diese Seele hat auch eine dunkle Seite. Denn so schön die Eintracht spielt, so sehr brodelt es. Der Kader zerfällt in Grüppchen, vor allem die Konfliktlinie zwischen Möller und Stein liegt offen. Sowieso Stein: Als Jürgen Friedrich, bis 1989 Manager, sagt: „Ein so unkontrollierter Mensch wie Stein ist eine große Belastung für die Gemeinschaft“, wirkt das wie eine Prophezeiung. Im Fernsehen ätzt Stein: „So lange Möller hier spielt, ist immer Theater.“ Liegt die SGE zur Pause zurück, schmeißt er Schuhe und Flaschen durch die Kabine. Stepanovic nennt er „ahnungslos“, Bein bricht er im Training aus Frust fast die Beine. Nur abends beim Bier wird er milde. Als Bein ihm in der Halbzeit Paroli bietet – „Uli, jetzt halt mal die Schnauze“ – begegnen sich die beiden abends in der Disco wieder. „Er sagte: ‚Find ich gut, dass du heute was gesagt hast“, erinnert sich Bein. Von Dauer ist der Friede indes nicht. „Am Wochenende spielten wir die Gegner an die Wand, aber unter der Woche saßen wir auf einer Zeitbombe“, sagt der Spielmacher. Es ist eine Mannschaft unter ständigem Druck, ein Team wie ein Benzinkanister, und jede Trainingseinheit ein Zündholz. Fußballspiele gewinnen sie mit Leichtigkeit. Die wahre Schwierigkeit besteht darin, nicht zu explodieren.