Best of 2015: Einen Tag vor dem Trainingsauftakt hält Pep Guardiola eine Dichterlesung. Was will uns der Künstler damit sagen?
„Ausgiebig verfolge ich mit erregten Fingerspitzen deine Brüste“, raunt Pep Guardiola um 20.43 Uhr, und der Moderator neben ihm lächelt errötend. Er raunt es in die Hitze des Münchner Juniabends hinein, er raunt es auf Katalanisch. In einer Sprache also, in der für deutsche Ohren eigentlich jeder beliebige Satz klingt wie: „Ausgiebig verfolge ich mit erregten Fingerspitzen deine Brüste.“
Aber es ist keine Sommernachtsfantasie, er raunt es ja tatsächlich, der Trainer des FC Bayern. Seine gepflegte Glatze schimmert im Scheinwerferlicht wie ein lang ersehnter Pokal, der Fünftagebart kratzt lasziv am Mikrofon. Für die 350 Zuhörer im ausverkauften Literaturhaus, die mit trockenen Kehlen im Halbdunkel sitzen, wird das katalanische Original von einem Schauspieler ins Deutsche übersetzt. Das klingt dann zwar nicht mehr ganz so leidenschaftlich, aber die Temperatur im Saal steigt trotzdem gleich um weitere fünf Grad auf jenseits der dreißig. Erregte Fingerspitzen: meine Güte!
Brüste: Da legst di nieda!
Aparte Literaturkreisdamen fächeln sich mit ihren Reservierungszetteln Luft zu, eine Nachwuchsautorin im geblümten Sommerkleid notiert die erotische Zeile in Schönschrift in ihr Büchlein, auf dessen Einband „Für meine Gedanken“ steht, und zwei bullige Spezln in Bayerntrikots und Dreiviertelhosen schauen einander so verklemmt lüstern an, als hätten sie soeben die junge Senta Berger nackt im Freibad gesehen. Brüste: Da legst di nieda! „Der Lichtbaum der Sinne“, fährt Guardiola mit hypnotischem Timbre fort, sei „bevölkert von Blättern und Vögeln.“
Es ist der Tag vorm Trainingsauftakt an der Säbener Straße. Ein letztes Mal will der Verein mit seinen alternden Kämpen Lahm, Robben und Ribéry den Gipfel des Fußballs in Angriff nehmen. Der vierte Meistertitel in Folge, der erneute Gewinn der Champions League: Es soll die Vollendung einer Ära werden. Und auch für Guardiola wird die kommende Saison erweisen, ob seine Amtszeit nun super war oder supersuper oder vielleicht noch mehr oder doch wesentlich weniger. Was plant der Mann, von dem zwischenzeitlich angenommen wurde, er sei derart genial, dass er den Ball höchstselbst ins Tor denken könnte? Von dem dann jedoch, nach dem Ausscheiden im Halbfinale gegen den FC Barcelona, angenommen wurde, dass seine Theoreme sogar ihm zu hoch seien? Man weiß es nicht. Guardiola gibt keine Interviews, er beantwortet nur ein paar Fragen auf Pressekonferenzen, die in ihrer Zusammenhanglosigkeit das große Ganze auch nicht sichtbarer machen.