Tag für Tag stellen sich Menschen an das Trainingsgelände ihres Vereins und hoffen auf Autogramme und Fotos. Warum machen sie das?
Hartmut, der BVB-Ordner, kann es nicht nachvollziehen. „Warum machen die dat?“ Eine Antwort erwartet er nicht, es gibt ja keine, die ihn überzeugen würde. Deshalb sagt er: „Nä! Nänänä!“ Die festgezurrte Kapuze seines schwarz-gelben Anoraks erlaubt das dazu passende Kopfschütteln nicht, aber sie schiebt Augen, Nase, Mund zu einer tiefskeptischen Maske zusammen: Hartmut runzelt nicht nur die Stirn, er runzelt das ganze Gesicht.
„Dat“ – also das, was ihm so suspekt ist und ihn dazu zwingt, sich hier draußen von den Ausläufern des Orkans Niklas mit Hagel auspeitschen zu lassen, statt gemütlich in seinem beheizten Container die neue „Sport Bild“ zu lesen – ist ein Schauspiel, das sich täglich vor dem Trainingsgelände von Borussia Dortmund wiederholt: Dutzende Menschen lauern stundenlang auf den Moment, da die Profis von ihrem Parkplatz auf das etwa 100 Meter lange Teilstück der Adi-Preißler-Allee in Richtung Kreisel einbiegen. Sie hoffen darauf, dass sie ihr Rufen erhören, anhalten, die Scheibe herunterlassen, ihnen ein Autogramm geben, sich von oder mit ihnen fotografieren lassen oder sogar – kaum auszudenken – ein persönliches Wort an sie richten, und sei es ein stimmloses Hallo. Manche werfen sich für eine solch kostbare Begegnung sogar vor den Kühlergrill.
„Dann seita platt!“
„Ich sach immer“, sagt Hartmut, „passt bloß auf! Wenn der Junge schlechte Laune hat, weil der in Training ein’ auffe Hölzkes gekricht hat – der gibt Gas und fährt zu Mamma. Und dann seita platt!“ Die Rolle als Verkehrspolizist, die er an seiner Schranke innehat, erfüllt ihn mit einer aufwühlenden Mischung aus Stolz und Widerwillen: Ohne ihn würde das Chaos ausbrechen, es gäbe womöglich Staus, Unfälle, Verletzte. Ordner hassen Unordnung. Dass sie ihre Anwesenheit erst nötig macht, sehen sie nicht. Sie sehen nur die Unordnung selbst.
Hartmut, der BVB-Ordner, sieht sie durch das Guckloch in seiner Kapuze. Er sieht sie in Form eines Schwarms, der sich schon seit dem frühen Nachmittag in einer kaum nachvollziehbaren Choreografie zwischen einem grasbewachsenen Hügel, einem Musterhaus der Baufirma Becker und der Adi-Preißler-Allee hin und her bewegt. Dieser Schwarm besteht aus zwei durchgefrorenen Japanerinnen, einer überfröhlichen italienischen Großfamilie, zwei ernsten Jungs aus England, einem Pärchen aus Mainz, das seinen Osterurlaub hier in Dortmund-Brackel verbringt, einer Rentnerin aus dem Schwarzwald, Vater, Mutter, Kind aus Zwickau, Jennifer aus Recklinghausen nebst ihrer Brieffreundin vom Bodensee, zwei Berufsschülerinnen aus der Vorstadt und einer schwer durchzuzählenden Sippe irgendwie miteinander verwandter BVB-Fans. Sie alle wollen eine Unterschrift, ein Selfie, vielleicht einen kurzen Satz von ihren Stars. Dafür harren sie in der Eiseskälte aus, die Niklas aus dem Nordatlantik ins Ruhrgebiet geblasen hat. Dafür werden nicht wenige von ihnen heute noch die Straßenverkehrsordnung brechen.
Warum machen die dat? Die Psychologie hält einen Strauß von Erklärungen dafür bereit. Statt wie in der Vorzeit Beeren und Pilze sammeln Menschen heute Aufkleber, Bierdeckel, Münzen, Schmetterlinge, Überraschungseifiguren oder eben Autogramme – eine alte Kulturtechnik, die längst nicht mehr lebensnotwendig ist, aber von manchen geradezu instinktiv weiterbetrieben wird. Schlichtes Besitzenwollen oder die Angst vor Mangel können ein Motiv sein, wie auch der Wunsch, sich inmitten einer unübersichtlichen Welt eine private Systematik zu schaffen. Sigmund Freud, der selbst altägyptische Glückskäfer sammelte, sah darin eine Ersatzbefriedigung unerfüllter sexueller Wünsche. „Ich will ein Kind von dir!“ – aus nachvollziehbaren Gründen können die Fußballprofis diesem Verlangen nur höchst selten nachkommen. „Ich will ein Autogramm von dir!“ – na gut, wenn’s weiter nichts ist. Ein Moment flüchtiger Nähe zwischen Anhimmelndem und Angehimmelten, die für Sekunden nichts weiter trennt als eine Autotür.