Er zerlegte den DFB, hübschte das Spiel der Nationalelf auf und war der Prinz des Sommermärchens. Wie Jürgen Klinsmann zum wichtigsten Trainer des Jahrzehnts wurde.
Er verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. Nach der Pressekonferenz schwebte Jürgen Klinsmann mit dem beschwingten Gefühl, einen Job erledigt zu haben, per One-Way-Ticket zurück ins heimische Kalifornien. Aufgezehrt vom Projekt 2006 und dem Ziel, die deutsche Elf zum Titel zu führen. Erledigt von den Grabenkämpfen mit Journalisten und Gschaftlhubern des Verbandes. Geplättet von seinem Ehrgeiz, den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Den Titel war er schuldig geblieben, und doch war ihm Außergewöhnliches gelungen.
Klinsmann hatte von Beginn an nichts dem Zufall überlassen. Jede Amtshandlung ein konkreter Effekt. Als er im August 2004 den DFB-Kader erstmals im Hotel Kempinski in Gravenbruch vor dem Spiel gegen Österreich empfing, führte er den Profis einen Film vor. Emotionale Momente der Fußballgeschichte. Das Wunder von Bern. Der Titelgewinn in München 1974. Franz Beckenbauer mit der baumelnden WM-Plakette auf dem Rasen von Rom. Dazu dröhnte der Rapper Eminem mit seinem Song „Lose yourself“ mit dem Auftaktvers: „One shot, one opportunity“. Motivation nach Schema F, holzschnittartig, doch die Botschaft war klar. Den Spielern standen die Münder offen. Einigen, wie Oliver Kahn, stieß die Messerspitze zu viel Pathos auf, die all das hatte. Aber dass hier ein neuer Geist einzog, war unbestreitbar. Die betulichen Kaffeeplaudereien mit Vorgänger Rudi Völler waren Geschichte. Der Beginn von „DFB 2.0“. Klinsmann machte die Nationalelf zu seinem Schattenreich. Das Team sollte nicht mehr nur Premiumprodukt des Verbandes sein, sondern ein autonomer Geschäftsbereich. Ein Staat im Staate. Diesen Anspruch rechtfertigte er damit, dass die eine Patrone im Lauf, der von Eminem beschworene „One Shot“, sein Ziel nicht verfehlen würde. Eine erfolgreiche WM wurde zum Leitmotiv in Klinsmanns Amtszeit.
Der Ernstfall begann für ihn am 9. Juni 2006, dem Tag des WM-Eröffnungsspiels. Bis dahin schickte sich der Bundestrainer an, alle Stellschrauben in seinem Verantwortungsbereich bis an die Grenzen der Belastungsfähigkeit anzuziehen. Ohne Rücksicht auf Verluste, mit einem Eifer, der für manche an Verbohrtheit grenzte. Nach der Absage von Ottmar Hitzfeld im Juli 2004 hatte der DFB eine „Trainerfindungskommission“ ins Leben gerufen, die es wochenlang nicht schaffte, einen Bundestrainer zu präsentieren. Guus Hiddink, Morten Olsen und Winfried Schäfer wurden gehandelt. Franz Beckenbauer brachte sogar Lothar Matthäus ins Spiel. Die Suche geriet zur Farce.
Derweil besuchte Urlauber Berti Vogts Jürgen Klinsmann mit dem Wohnmobil daheim an der Pazifikküste. Die beiden diskutierten eine Nacht lang über Reformen, die notwendig seien, um die Heim-WM doch noch zu einem Happy End zu führen. Der Schwabe holte weit aus. Keine Kompromisse. Vogts brachte ihn beim verzweifelten Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder ins Spiel, der Klinsmann nach einem Treffen in New York zusagte – und ihm sämtliche Forderungen genehmigte.
Als er den Zuschlag hatte, begann er aufzuräumen. Er drängte Nationalelf-Manager Bernd Pfaff zum Rücktritt. Mit dem war er schon zu Spielerzeiten aneinandergeraten, als der blonde Kapitän bei der Euro 1996 in Jeans zum Bankett auflief, obwohl der Manager „Anzug“ als Dresscode ausgegeben hatte. Als Beckenbauer für Holger Osieck als Co-Trainer plädierte, präsentierte Klinsmann kurzerhand Jogi Löw, obwohl der eigentlich noch um Bedenkzeit gebeten hatte. Torwarttrainer Sepp Maier, der allzu treu zu Oliver Kahn als Nummer eins stand, durfte sich im Oktober 2004 nach einem Ausflug in den Iran seine Papiere abholen. Sogar Sternekoch Dieter Müller wurde von Klinsmann düpiert, als er entgegen aller Absprachen das WM-Quartier von Leverkusen in den Berliner Grunewald verlegte. Mit der Standortänderung war auch der Gourmetkoch aus dem Rennen, die Elitekicker zu bewirten. Am Ende briet der kühle Reformator auch seinem Gewährsmann im Verband, Gerhard Mayer-Vorfelder, eins über, indem er verfügte, dass beim Essen seiner Elf nur noch Spieler und Funktionsteam anwesend sein dürften. In 11 FREUNDE sagte Klinsmann: „Für Diplomatie bin ich weder geeignet noch habe ich Zeit dafür.“
Seine Detailversessenheit trug mitunter absonderliche Züge. Im Juni 2005 traf „Sommermärchen“-Regisseur Sönke Wortmann die Nationalelf zum Vorgespräch in Nordirland. Als der ehemalige Oberligaspieler Wortmann während des Trainings abseits scheu mit dem Ball jonglierte, versprang ihm das Leder und kullerte auf den Platz, wo die DFB-Kicker gerade Koordinationsübungen vollzogen. Für Klinsmann Grund genug, eine Krisensitzung mit Löw und Bierhoff einzuberufen, um zu diskutieren, ob die Film-Doku die Arbeit seiner Kicker nicht doch zu sehr beeinträchtige.
Inzwischen hatte er ein Team aus Physiotherapeuten, Fitness- und Konditionstrainern, Psychologen und einem Chefscout zusammengestellt, das er pausenlos auf Trab hielt. Tim Borowski sagte: „Das Trainerteam drillte uns zu Maschinen, die 90 Minuten rauf und runter marschieren, ohne mit der Wimper zu zucken.“ Mark Verstegen, ein Berg aus Muskeln, triezte einen Kader, der sich zunehmend aller Altvorderen entledigte. Betonrührer Christian Wörns und Dauerläufer Dietmar Hamann blieben auf der Strecke, und im April 2006 wurde auch der bröckelnde Titan Oliver Kahn ins zweite Glied geschoben, um den frischen Wind im Team abermals zu dokumentieren. Doch nicht nur als Innenminister regierte Klinsmann knallhart durch. Als nach der 1:4‑Niederlage gegen Italien in Florenz die Kritik der Medien harsch ausfiel, stellte er die versammelte Journaille ins Achtung und drohte, er könne die Tür auch zumachen. Klinsmann hatte seinen Machiavelli gelesen.
Förderer Berti Vogts hatte ihn gewarnt, die Mannschaft nicht dem extremen Druck eines Eröffnungsspiels auszusetzen. Der Terrier fürchtete, dass die jungen Spieler unter dem Erwartungsdruck der Milliarden am Fernsehschirm zusammenbrechen könnten. Klinsmann aber spekulierte auf den gegenteiligen Effekt. Wenn in München gegen Costa Rica ein Erfolg gelänge, würde seine Elf nicht an den Brechungspunkt der Euphoriewoge gelangen, sondern idealerweise auf ihr durchs Turnier reiten.
Seine Detailversessenheit hatte in jeder Hinsicht durchschlagenden Erfolg. Anstelle von Kevin Kuranyi hatte er auf den letzten Drücker No-Name David Odonkor in den WM-Kader geholt, weil dessen Schnelligkeit aus Klinsmanns Sicht ein Überraschungsmoment barg. Und wieder behielt der Trainer recht. Die Sekundenbruchteile im Gruppenspiel gegen Polen, in denen der 22-Jährige mit dem Ball die Außenlinie hinunterhetzte, als sei eine Horde Rottweiler hinter ihm her, gingen in die Geschichte ein. Odonkor flankte nach innen, Oliver Neuville vollstreckte zum 1:0‑Siegtreffer – und über Deutschland ergoss sich ein Schauer der Glückseligkeit. Immer wieder hatte der Coach im Vorfeld der WM um Vertrauen geworben. Noch im April 2006 sagte er: „Wenn wir in dem Glauben an uns ins Turnier gehen – und dieser Glaube vom Publikum mitgetragen wird – ist alles möglich. Und wenn, an einem ganz besonderen Tag alles optimal läuft, dann, vielleicht, können wir auch einen Großen schlagen.“ Als Deutschland am 30. Juni 2006 im Viertelfinale auf Argentinien traf, wurde auch diese Prophezeiung Wirklichkeit.
Nie zuvor war eine deutsche Mannschaft in ihrer Ausrichtung und ihrem Charakter derart auf ihren Trainer fixiert. Erst im Halbfinale gegen Italien gelang es nicht mehr, die Willenskraft der Spieler über ihre sportlichen Fähigkeiten hinaus wachsen zu lassen. Das Projekt 2006 stieß an seine natürlichen Belastungsgrenzen. Deutschland wurde ein ruhmreicher Dritter. Klinsmann löste das Versprechen auf den Titel nicht ein, aber er hatte dem Land des skeptischen Denkens gezeigt, welch‘ epochale Wucht sein Optimismus entfalten kann. Der deutsche Fußball ist seither ein anderer. Joachim Löw verwaltet mit ruhiger Hand Klinsmanns Erbe. Agieren statt reagieren, die Menschen mit mutigem Fußball beeindrucken. Der Einfluss der Funktionäre bleibt aufs Nötigste beschränkt. Die Amtszeit des Göppingers ist gemessen an ihrer Dauer nur ein Intermezzo. Löw hat die Chance genutzt, eine Ära daraus zu machen. Doch der heutige Bundestrainer verfügt anders als sein Vorgänger auch in der zweiten Reihe über Spieler, die in der Lage sind, den neuen Geist aktiv mitzugestalten.
Zur Saison 2008/09 heuerte Klinsmann beim FC Bayern an. Auch Hoeneß & Co gestanden ihm umfangreiche Gestaltungsmöglichkeiten zu. Was sie ihm jedoch nicht bieten konnten, war die Zeit für sein langfristig angelegtes Konzept. Im Bundesligaalltag verbrauchte sich die hochtourige Schlagzahl des erfolgshungrigen Kontrollfreaks schnell.
Als die Maschine mit Jürgen Klinsmann nach dem Abschied 2006 Richtung Los Angeles abhob, fragten sich viele, ob der deutsche Fußball ohne den smarten Sonnyboy bald wieder in graue Agonie zurückfallen würde. „Ich fühle mich leer und ausgebrannt“, hatte Klinsmann beim Rücktritt gesagt. Die Wirklichkeit hat bewiesen, dass der Fußball es auch ohne ihn aushält. Ob er es nach dem rauschhaften Sommer 2006 auch mit dem manisch fordernden Perfektionisten ausgehalten hätte?
Dieser Text erschien im Original in unserem 11FREUNDE SPEZIAL „Die 00er“.