Die Ticketpreise in England sind astronomisch. Nicht nur in Liverpool, in ganz England schließen sich Anhänger aus dem ganzen Land zum Protest zusammen. Die Kritiker ernten Gegenwind von den Vereinen – und aus den eigenen Reihen.
Dies ist eine lange Reportage aus England aus unserer Ausgabe 11FREUNDE #136.
Schiedsrichterassistenten sind potentielle Buhmänner. Sie erkennen Tore wegen Abseitsstellung ab oder melden Missetaten der Spieler. Und sind deshalb noch häufiger Schmähungen ausgesetzt als Politessen. Wer in England als Schiedsrichterassistent Beliebtheit genießt, der hat entweder in einem WM-Endspiel ein irreguläres Tor gegeben oder etwas Bemerkenswertes getan. John Brooks, erst seit Beginn der Saison Unparteiischer in der Premier League, wurde im Januar zum Liebling der Öffentlichkeit, weil er den Spielern von Man City auf dem Rasen ins Gewissen redete: „Geht rüber zu euren Fans, sie haben 62 Pfund bezahlt, um euch zu sehen.“
In der Tat hatten die Anhänger umgerechnet 71 Euro für ihr Ticket für das Spiel bei Arsenal zahlen müssen. Doch während sich viele Fans in England damit abgefunden haben, dass ein Auswärtsspiel samt Fahrt und Eintrittskarte die Kosten eines Wochenendeinkaufs für die ganze Familie verschlingt, zeigten die City-Fans eine deutliche Reaktion. Sie schickten knapp 1000 Karten des Gästekontingents zurück nach London, die Unverwüstlichen im Stadion reckten ein Protestbanner in die Luft: „£ 62!!! Where will it stop?“ 62 Pfund! Wo soll das hinführen?
Ein Schiedsrichter-Assistent als Held
John Brooks, der Schiedsrichter-Rookie, fühlte sich in der Pflicht, die millionenschweren Stars an die Realität auf den Tribünen zu erinnern. Eine Heldentat, so nannten das viele Fans. Der englische Verband sah das anders und strich Brooks seinen bevorstehenden Einsatz im FA-Cup. Auch die Ordner im Stadion zeigten sich resolut und rissen den Fans mit Hilfe der Polizei ihr Transparent aus den Händen. Arsenal war sich nicht zu schade, in einer Stellungnahme darauf hinzuweisen, dass das Banner schließlich die Sicht einiger Zuschauer behindert hätte. Es war nicht das erste Mal, dass Unmutsäußerungen in englischen Stadien unterbunden wurden. Keine Bilder von Protesten fürs Fernsehen, the revolution will not be televised.
Doch die Sperre für Brooks und das Vorgehen der Ordner erstickten den Keim des Protests nicht. Im Gegenteil. Bei der englischen Fanorganisation Football Supporters’ Federation (FSF) gingen minütlich Mails von Fans aus ganz England ein. Der Tenor: „Es reicht.“ Michael Brunskill, einer der Organisatoren der Initiative, sagt: „Der Vorfall bei Arsenal war, sorry für die Ausdrucksweise, der Tritt in den Hintern, den wir brauchten, um aufzustehen.“
Das Kellergeschoss im Pub „The Blue Anchor“ in London quillt über vor Menschen. Sämtliche Dialektausprägungen englischer Sprache schwirren durch den Raum. Hier kommen die Fans aus Sunderland, Nottingham, London, Yeovil und sonstwo zusammen. Ältere Herren mit säuberlich gekämmten Scheiteln, Jungspunde in T‑Shirts. Es ist Donnerstag, der 31. Januar, und heute soll in der Hauptstadt der landesweite Protest gegen den Ticketwucher losgetreten werden. „Twenty’s plenty“, heißt das Motto, 20 Pfund sind genug, äquivalent zur deutschen Initiative „Kein Zwanni – Fußball muss bezahlbar sein“.
Eine Dauerkarte für über 1000 Pfund
Die englischen Fans streben zunächst nach einer Reduzierung der Preise für die Auswärtskarten. „Das erscheint uns als das realistischste Ziel. Wir haben noch sehr viele Baustellen, aber dieses Thema treibt die Leute nach dem Arsenal-City-Spiel um“, erklärt Initiator Brunskill. In seiner Eröffnungsrede im Pub führt er dann aus: „Von dem, was die Vereine einnehmen, wir reden von Milliarden, könnten sie jedem Fan für jedes Spiel eine Freikarte geben. Die Einnahmen durch Auswärtstickets machen nur ein Prozent aus. Das müssen wir ihnen deutlich machen.“
Was dann folgt, ist so etwas wie die Eröffnungsrunde der „anonymen Stadiongänger“. „Hallo, ich heiße David, bin Fan von Chelsea, wir zahlen bei jedem Auswärtsspiel mindestens 55 Pfund pro Karte.“ Ein Raunen geht durch den Pub. „Hallo, ich bin John, Arsenal, meine Dauerkarte kostet 1070 Pfund.“ Lauteres Raunen. „Autsch“, ruft jemand vom Tresen.
So geht sie weiter, die Runde der Schauermärchen. Und es geht den meisten nicht nur um Auswärtstickets, sondern um alle Preise. Das Maß ist voll, sagen sie.
Man City-Fans waren nicht die Ersten, die derartige Preise zahlen mussten, um ihre Mannschaft zu sehen – und sie waren auch nicht die Letzten. Einige Wochen später mussten die Supporter des FC Liverpool genauso tief in die Tasche greifen. Wenn der FC Chelsea auswärts antritt, gelten diese Partien meist als Kategorie-A-Spiele, so zahlen die Fans der Blues durch den Topzuschlag jedes Mal über 50 Pfund. In der gesamten Premier League gibt es keine Jahreskarte unter 255 Pfund, die englische Liga ist die teuerste unter den europäischen Topligen. Allein im letzten Jahr erhöhte sich der Preis für das durchschnittlich preiswerteste Erwachsenenticket um elf Prozent – ein Fünffaches der Inflationsrate. Die Preiserhöhungen sind im englischen Fußball eine Konstante, wohlgemerkt in allen vier englischen Profiligen. Selbst in der vierten Liga muss ein Zuschauer im Schnitt mindestens 17 Pfund bezahlen – für die günstigste Karte.
Als Inkarnation des Bösen gelten die Verantwortlichen beim FC Arsenal. Der Verein im Norden Londons verlangt unter allen Klubs das meiste Geld. Der Preis für das günstigste Spieltagsticket stieg hier in 20 Jahren um satte 920 Prozent. Auf 11 FREUNDE-Anfrage wollten sich weder Arsenal noch andere Londoner Klubs zum Thema Ticketpreise äußern. Die günstigste Arsenal-Dauerkarte kostet an die 1000 Pfund, die teuerste knapp 2000. Dafür empfiehlt es sich fast, den Bausparvertrag zu kündigen.
„Angelogen und abgezogen“
David O’Leary, 32 Jahre alt, seit 25 Jahren Arsenal-Fan, ist für das Meeting der Fan-Organisation ins „Blue Anchor“ gekommen. Er kneift die Augen zusammen und schüttelt langsam den Kopf, nimmt noch einen Schluck aus dem Pint. „Es geht um Wichtigeres als Titel. Es geht um die Zukunft des Fußballs.“ Ja, Per Mertesacker sei in der Verteidigung viel zu langsam, aber das kann O’Leary verwinden. Jedoch nicht, dass Leute im Emirates Stadium sitzen und Vereinslegende Tony Adams für einen Gitarristen aus den Siebzigern halten, während sich viele seiner Schulfreunde kein Ticket mehr leisten können.
Er erzählt die Geschichte eines Arsenal-Fans, der seine Jahreskarte wegwarf, weil in der Reihe vor ihm Menschen statt auf den Rasen auf ein Handy-Videospiel starrten. Und dann ist da noch der Fan, der versehentlich in den Mailverteiler des Vereins für Logenangebote kam. Er gab sich spaßeshalber zunächst interessiert, bis ihn die Wut über Arsenals Umgarnung der Snobs zu folgender Botschaft trieb: „Senden Sie mir nie wieder E‑Mails, in denen Sie mir ach so fantastische Benefits anbieten. Ich bin Fan seit 40 Jahren. Ich bin durch ganz Europa gereist, um diesen Klub zu sehen, aber ich werde heute keinen Penny mehr zahlen, um vom Klub angelogen und abgezogen zu werden.“
Ausgegrenzte Arbeiterklasse
Im Pub, so meint O’Leary, sei die Stimmung viel besser als im Stadion. Am Finsbury Park, unweit von Arsenal, hängen im „The Blackstock“ gerahmte Bilder der Arsenal-Ikonen. Sie hängen schief wie die Lampen neben den unzähligen Ventilatoren, Kabel pendeln von den Decken. Der grüne Linoleumboden ist durchtränkt von Bierresten, ein Mief aus Möbelpolitur, Bier und Moschus, den man wohl nur noch wahrnimmt, wenn man zum ersten Mal eintritt, weht einen an. Es ist laut, rau. Karaokeabend. Eine Frau mit eingefallenen Wangenknochen und fettigen Haaren brummt die „Unchained Melody“ der „Righteous Brothers“ ins Mikro, während alte Herren in Cordjacken den Takt mitklopfen und Schwarze in alten deutschen Armeejacken hin- und herwippen.
In den Pausen hört man kehliges Lachen. Es fehlt nur noch, dass die Coen-Brüder hereinspazieren und das Skript verteilen. Hier verfolgen sonst die Leute aus der Nachbarschaft Arsenals Spiele, schreien den Fernseher an und singen. Das Bier im „Blackstock“ ist das billigste der Gegend. Pubs waren schon immer der Kitt der Gesellschaft, in den Fanblocks war es früher einmal ähnlich. Die Gentrifizierung des englischen Fußballs hat viele langjährige Fans weggespült. O’Leary schüttelt wieder den Kopf: „Reden wir doch mal über die Gesellschaftsgruppe, die gerade am stärksten ausgegrenzt wird: die Arbeiterklasse.“
Kritik als Verrat am Verein
Auf jeden, der sein Ticket nicht bezahlen kann, kommen hundert andere, die dafür Schlange stehen. Trotz der höchsten Preise aller Zeiten lag die Auslastung der englischen Stadien in der vergangenen Saison bei 92 Prozent. Zu Zeiten, als man bei Arsenal noch für fünf Pfund ins Stadion kam, war sie nie annähernd so hoch. In England scheint unter einer nicht geringen Anzahl an Stadiongängern die Bereitschaft zu bestehen, mehr zu bezahlen, damit der Verein mehr bieten kann.
Ein User im Forum von 11 FREUNDE drückte es so aus: „Als Arsenal-Fan zahle ich lieber mehr für die Tickets, als mir das Geheule der ›Fans‹ anzuhören, wenn wir, wie Liverpool die letzten Jahre, auf einmal extrem straucheln.“ In England besteht keine gewachsene Kultur der Mitbestimmung, beispielsweise durch Fanvertreter in den Gremien. Der Wille zur Veränderung wird daher immer mit einer gewissen Skepsis begleitet und teilweise als Verrat am Verein aufgefasst. „In England ist es schwierig, sich als kritischer Fan zu positionieren“, sagt David O’Leary. „Die Leute denken sofort, man wolle dem Verein schaden.“
Auch bei der Versammlung der Fans in London gerät die Revolte ins Stocken. Die Teilnehmer ergehen sich in Litaneien über die eigene Situation. Anträge über Anträge. Es gleicht dem Parteitag der Piraten. Eine Anhängerin fragt gar, ob es nicht realistischer sei, die Forderung von 20 Pfund für ein Auswärtsticket auf 35 zu heben. Da greift sich ein stämmiger Mann am Tresen das Mikro: „Realistisch? Wir waren in den letzten Jahren verdammt realistisch – und wohin hat es uns geführt? Wir müssen jetzt endlich zusammenstehen und das durchziehen. Es kann nicht angehen, dass manche es den gegnerischen Fans gönnen, dass sie so viel bezahlen.“ Applaus brandet auf.
Die Rivalität der Fangruppen scheint tatsächlich das größte Hindernis für eine landesweite Fankampagne zu sein. Manch einer aus Liverpool würde wahrscheinlich lieber mit Heftzwecken gurgeln, als sich mit Man United-Fans an einen Tisch zu setzen. Immerhin sagt ein United-Anhänger: „Das Ding ist so wichtig, dass ich sogar vergesse, wer hier neben mir sitzt.“
Kampf gegen „viagogo“ – auch in England
Michael Brunskill von der FSF appelliert an die Teilnehmer, dass man Vorschläge für Protestaktionen brauche. Er bittet Marc Quambusch, ein paar Sätze zu sagen. Quambusch ist Sprecher der deutschen Initiative „Kein Zwanni“ für gerechtere Ticketpreise. „Wir haben wegen der hohen Preise ein Spiel bestreikt und standen mit Radiogeräten in der Hand vor dem Auswärtsblock.“ Die Engländer löchern ihn mit Fragen, über Preise, Bier und Fahnen im Stadion. „Stimmt es, dass man bei euch mit der Eintrittskarte die öffentlichen Verkehrsmittel zum Spiel nutzen kann?“ Quambusch bejaht, und seine Gegenüber schauen, als habe er soeben mitgeteilt, dass im Bundestag das Haschischrauchen erlaubt sei.
Dabei ähneln sich manche Probleme der englischen und deutschen Fans – wenn auch nicht in der gleichen Ausprägung. Auch in Deutschland mussten Fans schon über 70 Euro für ein Auswärtsticket bezahlen. Und: Die Formen des Tickethandels werden in beiden Ländern heftig diskutiert. Schalker und Hamburger Fans machten hierzulande mobil gegen die Kooperation ihrer Vereine mit der Internetplattform Viagogo. In England arbeitet sie mit zehn Vereinen der Premier League zusammen. Dabei lassen die Vereine zu, dass dort Karten mit einem Aufschlag von 150 Prozent verkauft werden (beim FC Schalke sollen es ab Sommer 100 Prozent sein). Vereine und Viagogo pochen darauf, dass durch die Kooperation mehr Transparenz und Kontrolle über den Tickethandel gewährleistet wären, doch auf der Insel regt sich Zweifel an der Praxis. Nicht zuletzt wegen einer Channel-4-Doku, in der ein Reporter undercover bei Viagogo arbeitete.
Neues Modell: „dynamic pricing“
In den verdeckten Aufnahmen erzählten Mitarbeiter, wie sie in großem Stil Tickets kaufen oder durch Veranstalter erhalten, um diese weiterzuveräußern. Nur ein geringer Teil der Viagogo-Tickets, so der Bericht, werde tatsächlich von Fans verkauft – den Großteil vertrieben professionelle Ticketverkäufer. Viagogo klagte gegen die Ausstrahlung des Berichts, scheiterte aber vor Gericht. „Unser Service ist notwendig, die Leute wollen die Möglichkeit, ihre Tickets zu verkaufen“, sagte Edward Parkinson, Marketingleiter des Unternehmens, der BBC. „Wir bringen neue Leute ins Stadion, Menschen aus aller Welt.“
Parkinson deutete zudem an, dass der Firma langfristig ein Modell vorschwebe, das bereits bei drei Vereinen der zweiten englischen Liga praktiziert wird: das „dynamic pricing“. Fußballtickets werden teurer, je näher das Spiel rückt – ohne Limit nach oben. US-Baseballteams haben so über 100 Spiele hintereinander ausverkauft. Preise für Fußballkarten wären dann ebenso flexibel wie Reservierungen für Hotelzimmer oder Flugtickets. Und es gibt viele Touristen, die schon heute alles zusammen buchen.
„Wir sind nicht militant“
Es ist kalt und windig am Loftus Road Stadium. Queens Park Rangers, Tabellenletzter der englischen Premier League, spielt gegen Norwich City. Vor dem Stadion tummeln sich Besucher aus Japan und Norwegen, zücken Kameras und stürmen den Fanshop. Zwei Stewards müssen den Einlass drosseln. Die Gesänge aber, die Einzelne im Stadion anstimmen, kennen die Touristen nicht. Die QPR-Tribünen bleiben still. „We sing on our own“ („Wir singen alleine“), schallt es vom Gästeblock. Gemurmel auf QPR-Seite, einer ruft: „You come from Norwich, your sister’s your mum“ („Du kommst aus Norwich, deine Schwester ist deine Mutter“). Ansonsten Ruhe. Das Spiel endet 0:0, QPR verschießt einen Elfmeter.
John Reid, ein ergrauter Herr mit weicher Stimme, verkauft vor dem Stadion ein DIN A5-Heft. Es trägt den Titel „Reclaim the Game“, ein Aufruf an die Fans, sich das Spiel zurückzuholen. Er gibt sich schicksalsergeben. Das war’s. Mit QPR. Und auch mit dem Protest. „Englische Fans werden keine Spiele boykottieren. Wir sind nicht militant.“ Dutzende Male hat er heute den Leuten zugerufen: „Reclaim the Game“. Viele konnten nichts damit anfangen. Nur vereinzelt stoppten manche. Sie fragten nach Tickets. Oder wie man zum Fanshop kommt.