Deutschland verliert gegen Schweden mit einem Unentschieden. Nach sechzig Minuten vergisst die DFB-Elite entgegen sonstiger Gepflogenheiten, den Sack furztrocken zuzumachen. Während einige Medien die Fähigkeiten der deutschen Elf in Frage stellen, freut sich Tim Jürgens über gewinnbringende Erkenntnisse.
Seine Ohnmacht konnte er nicht mehr kaschieren. Als Jogi Löw nach dem Spiel Reinhold Beckmann und Mehmet Scholl die obligatorische Analyse liefern musste, schauten die TV-Zuschauer minutenlang in die toten Augen von Berlin. Löw, sonst ein högscht kontrollierter Zeitgenosse, der selbst in der Neckermann-Werbung stilvoll rüberkommt, starrte müde auf den Studiomonitor und fingerte bei jedem aufgezeichneten Gegentor wie ein Blumenverkäufer auf dem Hamburger Fischmarkt knapp an Beckmanns Gesicht vorbei.
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Fußballdeutschland wurde Zeuge, dass der Mann, der sonst aus einem reichhaltigen Repertoire an Phrasen und funktionalen Euphemismen einen meterdicken Panzer aus Erklärungen für das Spiel seiner Mannschaft zu zimmern weiß, mit seinem Latein am Ende war. Doch bei aller Enttäuschung über den Spielverlauf, für den Fußballliebhaber war das Match im Berliner Olympiastadion in jeder Hinsich eine außergewöhnliche Erfahrung. Und mittelfristig wird es auch für die Arbeit des Bundestrainer vor allem positive Effekte haben. Denn was genau ist passiert?
1. Deutschland hat daheim gegen den Gruppenzweiten in der WM-Qualifikation unentschieden gespielt. Kein Beinbruch.
2. Die Elf hat sechzig Minuten das schwedische Team nach allen Regeln der Kunst beherrscht, zeitweise in dessen eigener Hälfte eingeschnürt und Tore fast nach Belieben geschossen. Marco Reus entpuppte sich dabei erneut als große Bereicherung für das Kombinationsspiel, Miro Klose spielte wie auf dem Zenit seines Schaffens. Nicht nur die vier Tore, auch die Dynamik, die dabei auf den Platz gebracht wurde, zeugt davon, dass die Entwicklung der deutschen Mannschaft nicht stehen bleibt.
3. Der große Gewinner bei diesem Unentschieden war der Zuschauer. Eine derartige Aufholjagd hat der DFB in seiner langen Geschichte noch nicht erlebt. Nach vielen erwartbaren Siegen der deutschen Mannschaft in jüngster Vergangenheit, zeigte sich endlich mal wieder die Unberechenbarkeit des Fußballs. Der Grund, warum der Sport so sehr begeistert.
So weit, so gut.
Die wundersamen Ereignisse im Berliner Westend waren für die deutsche Mannschaft jedoch auch eine bittere Lehre. Eine Lehre, die sich auf dem Weg zur WM 2014 durchaus als heilsam erweisen könnte. Denn selten wurde derart eindrucksvoll demonstriert, auf welchem Niveau sich internationaler Spitzenfußball heutzutage abspielt. Ein Jota nachzulassen bedeutet auf dieser Ebene, dass ein Vorsprung von vier Toren nicht ausreicht, um drei Punkte einzufahren. Die Ohnmacht, die Jogi Löw im ARD-Studio empfand, ist nur allzu nachvollziehbar. Denn die Dynamik, die das Spiel nach der 60. Minute entwickelte, kann ein Trainer schlicht und einfach nicht erklären. Löw muss sich wie ein Pockenkranker gefühlt haben, der am Abend gut gelaunt mit makellosem Körper ins Bett geht und am Morgen elend erwacht, die Haut mit Pusteln übersät.
Das deutsche Spiel, das eben noch fehlerlos und nach automatisierten Gesetzmäßigkeiten ablief, war von einer Sekunde auf die nächste von Defiziten und Disziplinlosigkeiten durchzogen. Einen Übungsleiter muss so etwas beim Zuschauen krank machen.
Die Schlussfolgerung aus dem Unentschieden gegen Schweden ist ein Mangel an Stabilität innerhalb der Mannschaft. Es geht um Motivations- und Konzentrationsmängel. Das Trainerteam wird hier ansetzen müssen und sollte wenig Probleme haben, so ein Problem in den Griff zu bekommen. Schließlich gehören Disziplin und Teamgeist – zwei elementare Bestandteile, die sich in der letzten halben Stunde auf ungewohnte Weise durch die Hintertür verabschiedeten – seit jeher zu den Kernkompetenzen deutscher Teams. Wer bei den Kommentaren der Spieler zwischen den Zeilen liest, erkennt, die Schuldigen sind intern längst ausgemacht. Wichtig ist nun, dass die Analyse kompromisslos ausfällt. Wer gestern Abend in die Augen von Jogi Löw blickte, wird an seinem Groll keinen Zweifel hegen. Ein derart eklatantes Nachlassen wird es bis Brasilien nicht mehr geben. Und die toten Augen von Berlin sind mit einem blauen Ring über den Tränensäcken davon gekommen.