Nach dem Turnier ist vor der Bilanz: Wir präsentieren das etwas andere Allstar-Team der Euro 2012. Den Cut geschafft haben ein weinender Grieche, ein furchteinflößender Portugiese, ein pöbelnder Franzose und natürlich auch der ein oder andere Spanier.
TOR
Przemyslaw Tyton
Es gab sicherlich bessere und wichtigere Keeper bei dieser Euro. Gianluigi Buffon paradete sich durch seinen vierten Frühling, Iker Casillas wurde zur Legende, Manuel Neuer machte den Libero – und doch sorgte ein Nobody aus Zamość für den großen Torwartmoment. 1:1 stand es zwischen Polen und Griechenland im Eröffnungsspiel, als Wojciech Szczęsny hektisch dem heranstürmenden Salpigidis sein Knie in den Weg stellte. Rote Karte, Elfmeter und tränennasse Panik im Warschauer Rund. Przemyslaw Tyton zwängte sich in seine Handschuhe, blickte einmal gen Himmel – und hielt den Schuss von Karagounis, und damit die Polen auf Raten im Turnier. Zwar sollte der Gastgeber zwei Spiele später die Segel streichen, aber der in den Katakomben am LCD-Schirm jubelnde Szczęsny prägte sich ein. Und Tyton wurde in der Wortspielhölle des Boulevard zum „Tytan“.
ABWEHR
Theodor Gebre Selassie
Nicht verwandt oder verschwägert mit dem Roadrunner aus Äthiopien, raste Theodor Gebre Selassie trotzdem über die rechte Seite, als wolle er nach olympischem Gold greifen. Der erste dunkelhäutige Nationalspieler Tschechiens war die fußballerische Entdeckung in der ansonsten spröden Bilek-Elf. Machte den Deal mit Werder Bremen rechtzeitig fix, bevor ihm Nani im Viertelfinale Knoten in die Beine dribbeln konnte. Die Bundesliga darf sich auf ein spektakuläres Laufwunder freuen.
Bruno Alves
So sehen Sieger aus, bzw. Abwehrkanten. Der Portugiese Bruno Alves hätte auch auf seine Stirn ein großes „Don´t fuck with Bruno“ eintätowieren lassen können, man hätte ihm das durchaus abgenommen. Kein anderer Verteidiger bei dieser EM wirkte so furchteinflößend und spielte zugleich so konstant wie der bullige Mann mit dem schwarzen Haar. Einen wie Alves hätte man gerne bei der nächsten Kneipenschlägerei dabei – oder eben in seiner Mannschaft. Im Halbfinale gegen Spanien wurde Alves – der zuvor hervorragend gegen den Weltmeister verteidigt hatte – zur tragischen Figur. Beim Elfmeterschießen schnappte er sich gedankenverloren den Ball und wollte zur Tat schreiten, da grätschte ihn Kollege Nani ab – Alves hatte sich in der Reihenfolge geirrt. Die Konzentration war dahin. Nani traf, Alves zimmerte seinen Schuss gegen die Latte. Und Portugal schied aus.
Daniele De Rossi
Kerle wie Daniele De Rossi wurden früher als „Männer von echtem Schrot und Korn“ bezeichnet, oder, um es mit den Worten eines Mitglieds der 11FREUNDE-Chefredaktion zu sagen: „Solche Typen werden heute gar nicht mehr gebaut.“ Neben all den freundlichen Piques und Hummels´ dieser Welt wirkt der Italiener wie aus der Zeit gefallen, sein Dreitagebart gab dem Defensivspezialisten bei dieser EM noch den nötigen James-Bond-Bösewicht-Kick. Erst im Finale gegen Spanien wurden auch De Rossi die Grenzen seines Könnens aufgezeigt, zwar bemühte er sich mit einer frühen Grätsche gegen Xavi „ein Zeichen zu setzen“ (ZDF-Experte Oliver Kahn in der Halbzeitpause), weil aber Xavi anschließend nur noch besser spielte, stand auch De Rossi am Ende als Verlierer da. In unsere Herzen hat er sich dennoch geraubeint.
Jordi Alba
Eines haben wir bei 11FREUNDE gelernt: Widerspreche nie den Helden dieses Sports. Also sprach Johan Cruyff, Holländer, Held, König: „Jordi Alba ist für mich die Entdeckung des Turniers!“ Finden wir auch. Vorher war der pfeilschnelle Linksverteidiger nur Kennern der spanischen Liga ein Begriff, jetzt weiß man, dass es offenbar nur sehr wenige Fußballer gibt, die auf dieser Position in den kommenden Jahren besser spielen werden. Für 14 Millionen Euro wechselt der Finaltorschütze (zum 2:0) nun vom FC Valencia zum FC Barcelona, dem Verein, bei dem er einst in der Jugend ausgebildet und dann, angeblich wegen mangelnder Körpergröße, weggeschickt wurde. Damit ist beim FC Barcelona auch die letzte Mini-Schwachstelle mit einem fantastischen Fußballer abgedeckt. Europa sollte schon mal das fürchten lernen.
MITTELFELD
Sami Khedira
Ach, Sami. Ach, Lena. Ach, Scheiße. Weil Kollege Bastian Schweinsteiger seinen minderbegabten Zwillingsbrüder zum Turnier entsendet hatte, musste der Madrilene die defensiven Mittelfeldlasten alleine stemmen. Das klappte bis zum Halbfinale hervorragend. Von José Mourinho in der letzten Saison zum Boss geschult, rannteackertetobtegrätschtevolleyte Khedira wie ein Widlpferd durch das deutsche Zentrum. Sein Treffer gegen Griechenland zählte zu den schönsten der Euro, sein Jubel auch, seine Freundin sowieso. Kombinierte Frings’sche Kämpferqualitäten mit den spielerischen Feinheiten eines Uwe Bein. Der modernste Sechser. Ach, Sami.
Andrea Pirlo
Ja, auch 11FREUNDE hat Andrea Pirlo während dieser EM häufig und gerne abgefeiert, zu cool waren seine Auftritte in der Vorrunde, zu sehr verschlug es einem die Sprache, als er im Viertelfinale gegen England seinen Elfmeter einfach ins Tor lupfte, scheinbar unverwundbar gegen jede Form der möglichen Blamage. Und so schlich sich der Weltmeister von 2006 durch dieses Turnier und in unsere Herzen, ein langmähniger Spielermacher alter Schule mit dem Gesicht eines weisen Apachen-Häuptlings. Übrigens: Pirlo spielt bei Juventus Turin. Vielleicht schauen wir in der neuen Saison auch mal wieder italienischen Fußball.
Andres Iniesta
Es ist nicht zu glauben, aber Andres Iniesta hat es schon wieder geschafft, sich selbst zu überbieten. Seine Leistung im EM-Finale mit „Weltklasse“ abzukanzeln wäre so, als wenn man Michael Jackson einen ganz passablen Musiker nennen würde. Dieser blasse Junge mit dem lichten Haupthaar war gegen Italien Lenker und Denker, Herz, Hirn, Leber, Niere, Bauchspeicheldrüse. Alles. Jetzt ist Iniesta Champions-League-Sieger, Weltmeister und zweifacher Europameister. Macht den Mann endlich zum Weltfußballer, herrschaftszeiten nochmal!
Girogos Karagounis
Alter Mann ganz zart. Es wird eines der Bilder dieser EM bleiben: Wie Giorgos Karagounis, der schlitzohrige griechische Spielermacher, erst im entscheidenden Gruppenspiel gegen Russland das 1:0 erzielte und anschließend seine zweite gelbe Karte im Turnierverlauf erhielt, Folge: Sperre für das Viertelfinale gegen Deutschland und ein Gesicht voller Verzweiflung und Entsetzen, dass durchaus mit dem heulenden Paul Gascoigne von 1990 in Verbindung gebracht werden darf. Karagounis´ Griechenland war wenigstens ein Underdog, der die Großen in Europa ein wenig ärgern konnte. Danke dafür!
ANGRIFF
Samir Nasri
Robespierre hätte seine helle Freude an diesem Samir Nasri gehabt, verkörpert der kleine Derwisch doch die urrevolutionärsten (und damit urfranzösischsten) Tugenden in Perfektion: Querdenkend, loyal nur gegenüber der eigenen Vernunft, kritisch wider etablierte Autoritäten, am kritischsten gegenüber den Mächtigen. Die Leidtragenden waren Laurent Blanc XIV., sein Ancien Régime und die Turnierchancen der Équipe Tricolore. Nasri radelsführte den Kabinenstreit, wurde dann aussortiert, um im Viertelfinale erst nach dem Schlusspfiff mit eloquenten Tiraden gegen einen Journalisten aufzufallen. Der Verband überlegt, ihn zwei Jahre zu sperren. Und wir sagen: Revolutionen brechen eben nicht dann aus, wenn es den Leuten am schlechtesten geht, sondern dann, wenn sie glauben, nur wenig trenne sie davon, dass es ihnen besser geht. Wie es Samir Nasri noch besser gehen könnte, wissen wir aber auch nicht.
Mario Balotelli
Hahnenkamm. Fallrückzieher. Pöbeljubel. Deutschland. Torpedokopfball. Tigerschuss. Muskeln, Sehen, Brust. Wadenkrämpfe. Balotalia. Eurozweiter. Kabinengang. Tränen. Ende. Mario Balotelli spulte in einem Turnier mehr Emotionen und Momente ab, als in einen Almanach passen. Dafür sagen wir einfach mal: Grazie!