Spanien siegt gegen Portugal und wartet im Finale auf Deutschland oder Italien. Das ist Fußball in Perfektion – doch auch die Zerstörung des schönen Spiels. Andreas Bock trauert.
In der 66. Minute hatte Xabi Alonso genug. Der Spanier schoss aus der eigenen Hälfte auf das Tor von Rui Patricio. Dabei rutschte ihm der Ball über den Spann und landete weit neben dem linken Pfosten. Die Mannschaften spielten bis dahin das, für was sie genormt wurden: Maschinenfußball, der darauf ausgerichtet, den Gegner matt zu setzen. Allein, er hatte beide Teams mehr oder weniger patt gesetzt. Zu diesem Zeitpunkt führte Spanien mit 1:0 – nach Torschüssen.
Seit Jahren sind Trainer, Spielanalytiker, Mediencoaches oder Sport-Psychologen auf der Suche nach dem perfekten Spiel. Dazu gehen sie in Höhenkammern, Life-Kinetik-Zentren oder arbeiten mit Psychotests. Als Ralf Rangnick den Sinn einer Verwissenschaftlichung des Fußballs mal im Sportstudio erklären wollte, wurde er ausgelacht. Das perfekte Spiel: Wie sollte es das funktionieren? Fußball, der Sport an sich, beruhe schließlich auf dem Prinzip des Zufalls. Rangnick relativierte mal in einem Interview mit 11FREUNDE: „Man kann die Fehler auf ein Minimum reduzieren – darauf kommt es an.“
Keine Fehler – und keine Überraschungen
Bei dieser EM haben wir sogar ein paar Mal das totale Zunichtemachens des Fehlers gesehen. Der Franzose Alou Diarra spielte etwa gegen England 37 Pässe – und 37 kamen an. Portugals Raul Meireles erreichte diesen Wert gegen die Niederlande. Andres Iniesta schaffte im Spiel gegen Irland eine Passquote von 95 Prozent, Sergio Ramos liegt regelmäßig im Bereich zwischen 90 und 100. Eigentlich dürfte also die Zeit vorbei sein, da man sich als Fußballfan auf den Rängen über Querschläger, Mondbälle oder eben Schüsse aus 60 Metern aufregt, die zudem noch über den Spann rutschen. Alles so schön perfekt hier.
Doch wenn auf beiden Seiten alles funktioniert, dann klappt auf beiden Seiten eben: nichts. Es ist, als würde man zwei exakt identische Rennwagen mit Autopiloten mit exakt derselben Geschwindigkeit eine freie Strecke entlangjagen. Und im Gegensatz zu sagen wir mal einem Tennismatch zwischen Rafael Nadal und Roger Federer, wo sich der Zuschauer immerhin an der Geschwindigkeit der Vorhand- und der jeweiligen Returnpeitschen ergötzen kann, kommt im Fußball etwas heraus, für das der Reportersprech das Attribut „intensiv“ benutzt. Das soll manchmal Spannung, oft aber taktische Finesse suggerieren. Und das gut zu finden, ist dieser Tage ziemlich en vogue. Nur wird sich jemand in zehn Jahren an dieses Spiel erinnern? In fünf Jahren? In einem Jahr? Nächste Woche? Weißt du noch damals, als Sergio Ramos gegen Cristiano Ronaldo an der Außenlinie klärte.
Am Mittwochabend zeigten Portugal und Spanien, was „intensiv“ übersetzt tatsächlich bedeutet, nämlich: Beamtenfußball. Alle Spielzüge wurden schon einmal erprobt, dann abgeheftet und nun in den passenden Situationen wieder hervorgeholt. David Silva nie über Außen, sondern stets durch die Mitte – Miguel Veloso mit der Grätsche. Andres Iniesta auf Jordi Alba, Jordi Alba auf Andres Iniesta – Joao Moutinho und Raul Meireles mit dem Block. Das große Wiedersehen auf dem nach Aktenordner müffelnden Amt. Zumal sich die meisten Anwesenden diese Saison schon viermal begegnet sind – in Madrid oder Barcelona. Während also Cristiano Ronaldo mit seinen drei, vier Übersteigern manche Verteidiger wie Comicfiguren aussehen lässt, bleibt sein ewiger Gegenspieler Gerard Pique einfach stehen.
Die Suche nach dem Schuss
Sicher, in einem EM-Halbfinale erwartet niemand ein offenes Visier, doch vielleicht ein bisschen Kreativität, des Spielers Sehnsucht nach dem Überraschungsmoment. Selten hat das vermeintlich perfekte Spiel das schöne Spiel so sehr zerstört. Sie hatten sich neutralisiert, zum Erschöpfen gekurzpasst, sie hatten wieder ihre 85, 90, 95 Prozent Passquoten erreicht, all das hatte zu nichts geführt. Sie liefen sich fest, und dann hielt Xabi Alonso nach über einer Stunde einfach mal drauf. Es wirkte wie die Suche nach dem Zufall. Die Suche nach dem Schuss.
Erst in der Verlängerung fanden die Spanier diesen wieder. Doch Iniestas Chance vereitelte Patricio und Ramos Freistoß zog knapp über das Tor. Und dann kam das Elfmeterschießen. Lukas Podolski soll mal gesagt haben: „Fußball ist wie Schach, nur ohne Würfel.“ Portugal gegen Spanien war wie Schach – mit Würfel.