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Was mache ich hier, denkt Stefan? Ich gehöre hier nicht mehr hin, bin umgeben von Geschichten, die schon lange aus­er­zählt sind, ohne Pointe, aber ganz rund, kein offenes Ende, keine offenen Fragen. Toto Starek, der Ver­sager. Diggo Decker, sein Herr­chen. Frank Ten­holt, der Statt­halter. Karin Ten­holt, die Ver­wirr­ma­schine. Thomas Jacobi, Berufs­ju­gend­li­cher. Mandy, Pro­vinz­si­rene. Heinz Ten­holt, Klaus Dudek, Karl-Heinz Rogowski, Dieter Mehls und all die anderen.

Und Omma Luise. Die Frau, die alles mit­ge­macht hat. Einen Mann, den sie nicht so sehr geliebt hat wie einen anderen, mit dem sie aber trotzdem fast fünfzig Jahre ver­hei­ratet war. Bis dass der Tod sie schied. Genauso wie von ihrer Tochter. Die Scheiße, die man Leben nennt.

Und Charlie. Char­lotte Abromeit. Die Enkelin des Masu­ri­schen Ham­mers, des alten Kir­mes­bo­xers, der großen Liebe von Luise Bor­chardt, gebo­rene Horst­kämper. All diese Geschichten, die man eigent­lich auf­schreiben müsste, aber eigent­lich ist ein großes Wort, das größte viel­leicht über­haupt, weil es immer zwi­schen dem steht, was man tut, und dem, was man tun sollte. Aber das, was man tut, ist nun mal das, was einen am Leben erhält. Das, was man tun sollte, lenkt einen ab und bläst einem Wolken in den Kopf. Als Kind glaubt man, dass man aus einem Flug­zeug springen könnte und die Wolken einen auf­fingen. Alles Quatsch. Du hast ein Haus zu ver­kaufen, denkt Stefan.

Das Haus.

Der Termin mit dem Makler.

Stefan nimmt sein Telefon aus der Hosen­ta­sche. Es war natür­lich der Makler, der vorhin ver­sucht hat, ihn zu errei­chen, nicht Anka.

Er steckt das Telefon wieder weg. Jetzt ist es auch egal, den Makler ruft er später noch mal an, auch wenn er nicht weiß, was das bringen soll, der wird sich nicht am Sonntag mit ihm treffen, der Makler, nicht für ein her­un­ter­ge­kom­menes Berg­ar­bei­ter­rei­hen­haus mit nied­rigen Decken. Also muss er einen neuen Termin machen und wieder hier­her­kommen, dann aber heim­lich, damit er nie­mandem über den Weg läuft, von nie­mandem ver­haftet und ver­ur­teilt werden kann, zu Bier und Sprü­chen und Erin­ne­rungen. Wenn er am Mon­tag­morgen nicht in Mün­chen ist, ist er arbeitslos und dann kann er sich auch selber Guten Morgen sagen, wie das echte Leben.

Was tun?

Erst mal wieder auf das Spiel kon­zen­trieren, bezie­hungs­weise auf das Bier, das Dieter Mehls ihm völlig über­ra­schend in die Hand drückt. Das wird jetzt aber ein biss­chen viel, denkt Stefan, es ist ja nicht mal richtig Abend, wo soll das alles noch hin­führen. Aber Dieter Mehls sagt Auf unseren Murat“, und da muss natür­lich mit­ge­trunken werden, denn der Murat ist einer von uns.

Und dieser Einer­vo­nuns hat jetzt wieder den Ball, kurz hinter der Mit­tel­linie. Er wird nicht ange­griffen, viel­leicht, weil der Gegner meint, dass es ja eh keinen Sinn hat, also geht er ab, Rich­tung Straf­raum, lässt den dann doch halb­herzig auf ihn zustre­benden defen­siven Mit­tel­feld­mann der TuS stehen und zieht weiter Rich­tung Tor. Die anderen können stehen bleiben, das spürt man gleich, den hier wird er alleine machen. Einen wenigs­tens muss er raus­hauen. Einmal muss er zeigen, was wirk­lich Sache ist. Wenn er nicht so wäre, wäre er nicht da, wo er ist, der Murat. Er wird sie jetzt alle der Reihe nach stehen lassen und dann dem Tor­wart den Ball durch die sprich­wört­li­chen Hosen­träger spielen oder ihn umkurven und lässig ein­schieben. Mal ehr­lich, dafür sind die Leute doch gekommen, das wollen sie sehen, die kleinen Genia­li­täten, die Kabi­nett­stück­chen, damit sie sagen können: Als der vier war, da hab ich den noch nass gemacht, aber danach war Ende Gelände.

Und als die Menge schon raunt und den Geräusch­pegel in einer schönen Kurve anschwellen lässt, rückt der Eins­neunzig-Mann aus der Innen­ver­tei­di­gung heraus, nimmt Fahrt auf, mit einer Ent­schlos­sen­heit, die nicht anders als wild zu nennen ist, und was dann kommt, sieht man sonst nur auf You­tube: Wie einer fast abhebt, das Bein gestreckt, kein Auge für den Ball, nur für den Gegner. Später werden sich alle an das Geräusch erin­nern. Und froh sein, dass es nie­mand gefilmt hat, weil man es dann nicht noch mal sehen muss. Und sich ärgern, dass nie­mand es gefilmt hat, weil man dann viel­leicht Mate­rial für einen Pro­zess hätte.

Murat schreit. Bleibt liegen. Blickt auf seinen Unter­schenkel. Schreit. Schlägt mit der fla­chen Hand auf den Kunst­rasen. Der Hüne steht auf und geht weg. Mis­sion erfüllt. Ein, zwei Sekunden reagiert keiner. Dann ist es Heinz Ten­holt, der auf den Platz läuft und neben Murat nie­der­kniet. Jetzt Stim­men­ge­wirr. Heinz Ten­holt ruft irgendwas. Karin läuft los. Sie ist Ärztin, Ortho­pädin sogar. Jetzt reagiert die Mann­schaft. Drei, vier Mann sind bei dem Hünen. Rudel­bil­dung. Man stößt sich gegen­seitig vor die Brust. Die Lage wird unüber­sicht­lich. Murat schreit noch immer, aber das geht unter.

Ein Kran­ken­wagen, heißt es. Wir brau­chen einen Kran­ken­wagen.

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Auszug aus:
Som­mer­fest, Roman
320 Seiten, gebunden
Euro (D) 19,99 | sFr 28,90 | Euro (A) 20,60
ISBN 978−3−462−04386−0
Kie­pen­heuer & Witsch
Erschei­nungs­datum: 16. Februar 2012
Hör­buch (CD)
Euro (D) 22,95
Roofmusic/​tacheles!
Erschei­nungs­datum: März 2012

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