Das arme Kaugummi. Gebissen und geschleckt. Gekaut und geleckt. Seit nunmehr 25 Jahren wohnt ein armes Kaugummi im Mund des vielleicht besten Fußballtrainers aller Zeiten und wartet darauf, endlich ein ruhiges Rentnerdasein auf einer englischen Müllkippe zu fristen. Hartnäckige Gerüchte besagen, dass Sir Alexander Chapman Ferguson, der am Samstag sein 25-jähriges Dienstjubiläum als Trainer von Manchester United feiert, sein Kaugummi seit dem Amtsantritt am 6. November 1986 nicht mehr ausgespuckt hat.
»> Fergusons Karriere in der Bildergalerie!
Ein Vierteljahrhundert bei ein und demselben Klub, 37 Titel mit Manchester United, zweifacher Welttrainer des Jahres – wo Alex Ferguson draufsteht, da ist Erfolg drin. Bei diesem Mann überrascht einen schon gar nichts mehr. Auch nicht, dass er in seiner Freizeit Rennpferde an den Start gehen lässt und mit nur einem erfolgreichen Gaul allein im Jahr 2002 17 Millionen Euro Gewinn machte. Alex Ferguson könnte wohl auch einem Haufen Hundekot zu Erfolg verhelfen.
Govan: Verrostete Kräne, verlebte Gesichter
Wie er das macht, bleibt sein Geheimnis. Wie bei allen Genies auf diesem Planeten. Wer kann schon sagen, warum Diego Maradona so mit Talent überschüttet wurde, wer weiß denn, weshalb Albert Einsteins Gehirn solch famose Ideen ausspuckte? Wahre Genialität lässt sich nicht erklären, so auch nicht das Erfolgsgeheimnis von Alex Ferguson. Aber man kann es ja wenigstens versuchen.
Vielleicht liegt es an seiner Herkunft, seiner Heimat Glasgow und dem als härtester Stadtteil der härtesten Stadt Europas verschrienen Fleckchen Govan. Hafenanlagen aus grauem Beton, verrostete Kräne, verlebte Gesichter. Wer hier aufwächst, kommt nicht mit dem Silberlöffel im Mund zur Welt, der schluckt den Löffel zur Not einfach runter. Hart aber herzlich – in Govan könnte man den Spruch auf die Straßen sprühen. Hier wird Alex Ferguson groß, hier gewinnt er die ersten Schlägereien, hier wird er mit 20 Jahren zum Sprecher der Lehrlinge in seiner Fabrik gewählt und organisiert die ersten Streiks. Und sonst? Wird natürlich Fußball gespielt. „Wenn wir nicht Fußball gespielt haben, haben wir uns geprügelt“, erinnert sich Ferguson, „das war unser Leben.“
Alex Ferguson, der Wandervogel
Als begabter, weil torgefährlicher Stürmer beginnt Ferguson, den sie in der schottischen Heimat alle nur „Alec“ nennen, 1957 seine Profikarriere bei den Queens Park Rangers. Bis zu seinem Karriereende 1974 heißen die weiteren Stationen FC St. Johnstone, Dunfermline Athletic, Glasgow Rangers, FC Falkirk und Ayr United. 167 Tore in 17 Jahren für sieben verschiedene Vereine. Alex Ferguson, der Wandervogel. Ein Junge aus dem Arbeiterviertel, dem nichts so zuwider ist, als nicht zu arbeiten. Also beginnt er 1974 seinen ersten Job als Trainer – für 40 Pfund die Woche bei einem Klubs namens East Stirlingshire in der zweiten schottischen Liga. Nur 117 Tage später wechselt er zum FC St. Mirren. Dort stehen ihm beim ersten Training acht Feldspieler und ein Torwart zur Verfügung. Für 2000 Pfund erwirbt der neue Chefcoach einen begabten Mittelstürmer. „Der Kerl hat unser gesamtes Transferbudget ausgegeben“, jammert anschließend St. Mirrens Präsident und beschwört noch vor Saisonbeginn das Ende des Klubs herbei. Es klappt dann doch noch. Auch weil Ferguson vor den Spielen mit dem Megaphon durch die Stadt läuft und die Bevölkerung zu einem Besuch im örtlichen Fußballstadion auffordert.
Und dann der Wechsel, der die Welt bedeutet. Zumindest im Leben von „Alec“, dem Typen aus Govan, dort wo selbst manche Ratten reicher sind, als die Menschen, deren Keller sie bewohnen. 1978 vermeldet der FC Aberdeen den Wechsel des Trainerjünglings an die schottische Nordseeküste. Eine sagenhafte Erfolgsgeschichte beginnt. Dreimal, 1980, 1984 und 1985, wird Aberdeen schottischer Meister, viermal gewinnt Ferguson den Pokal. Zwischendurch coacht er auch noch die schottische Nationalelf und führt sie 1986 zur WM nach Mexiko. 1983 macht sich Ferguson unsterblich, als seine Mannschaft Real Madrid im Finale um den Europapokal der Pokalsiger mit 2:1 bezwingt. Real-Legende Alfredo di Stefano muss seinem Trainerkollegen nach dem Spiel zähneknirschend die Hand reichen. Galten in den Jahrzehnten zuvor die großen Zwei des schottischen Fußballs, Rangers und Celtic, als eigentlich unüberwindbar, schafft Aberdeen unter Ferguson genau das: die Wachablösung im schottischen Fußball. Aberdeen und Ferguson, es ist die große Liebe. Bis eine ziemlich in die Jahre gekommene und schon leicht abgetackelte ehemalige Schönheitskönigin kommt und die Beziehung ruiniert.
Über seinem Schreibtisch hängt ein Schild: „Ahcumfigovin“
1986. Die Saatkrähe wird „Vogel des Jahres“. Ein Mann namens Elie Wiesel bekommt den Friedensnobelpreis. Und Alex Ferguson unterschreibt einen Vertrag als neuer Trainer von Manchester United. Als erste Amtshandlung schraubt der Neuling ein Schild an die Wand hinter seinem Schreibtisch fest. Darauf steht: „Ahcumfigovin“ – ich komme aus Govan. Damit die Spieler gleich wissen, was Sache ist. Im altehrwürdigen Old Trafford weht jetzt ein frischer Wind, der nach Minz-Kaugummi riecht und nach Tritt in den Arsch schmeckt. Denn genau das muss Ferguson in seinen ersten Monaten und Jahren tun: Seinen verwöhnten Arbeitnehmern heftig in den Hintern treten. Der letzte Gewinn der Meisterschaft liegt bereits 19 Jahre zurück, die Erben der ruhmreichen Busby-Babes sind schon längst nicht mehr als englischer Vorzeigeverein zu gebrauchen, die Fußballer haben am Wochenende meist mehr Promille im Blut als abgerissene Kilometer in den Waden. Englands Number one kommt Ende der Achtziger aus Liverpool, ausgerechnet. Als Ferguson der Presse nach wenigen Trainingseinheiten mitteilt, er sei zu Manchester United gewechselt, um die Rivalen aus Liverpool „von ihrem verdammten Sockel zu stoßen“, erntet er nur müden Beifall.
Es macht Fergusons Ausgangsposition als großer Reformer nicht besser, als seine Mannschaft das erste Spiel der neuen Saison mit 0:2 gegen Oxford United verliert. Oxford United. Diesen Namen werden die Manchester-Fans nicht vergessen haben, als sie vier Jahre später „Bye-bye Fergie!“ durchs Old Trafford brüllen, um den ungeliebten Coach loszuwerden. Vielleicht saufen die Spieler jetzt weniger, nachdem der neuen Chef tägliche Urinproben eingeführt hat, ja gut. Aber lieber trocken trinken, als trocken verlieren! Ferguson hat noch ein Spiel, um seinen Job zu retten. FA-Cup-Finale der Saison 1989/90, Manchester United gegen Crystal Palace. Wembleystadion. United gewinnt mit 2:0 und darf den ersten Titel der Ära Ferguson feiern. Aber was heißt hier Ära? Alex Ferguson, der Mann aus Govan, hat gerade noch einmal eine neue Chance erhalten. Er muss sie nur noch nutzen.
1992, der Königseinkauf: Aus Leeds kommt Eric Cantona
Und wie er sie nutzt! Ferguson pflanzt die Säulen Paul Ince und Mark Hughes in seine Mannschaft, macht aus Manchester wieder die Marke United, malträtiert dabei sein Kaugummi und zwischendurch ist er auch noch dafür verantwortlich, dass in Manchesters Jugend die besten Nachwuchsspieler ihrer Generation heranreifen. Dem walisischen Wirbelwind Ryan Giggs gibt er am 29. November 1990, dem Tag, an dem Giggs 17 Jahre alt wird, einen Profivertrag. Aus London ist bereits das Edel-Talent David Beckham in Uniteds Nachwuchsabteilung gewechselt, gemeinsam mit dem stillen Paul Scholes, Nicky Butt und den Neville-Brüdern Phil und Gary wird der Blondschopf schon bald die Fußball-Welt aufmischen. Schließlich tätigt Ferguson 1992 seinen Königseinkauf: Von Ligakonkurrent Leeds United kommt der Franzose Eric Cantona, ein als enfant terrible verschrienes, schlampiges Genie. Zu bekloppt, um in der disziplinierten Welt des Profifußballs tatsächlich zu bestehen. Sagt der Rest der Welt. Er ist eine Ausnahmeerscheinung, der einzige Fußballer, für den es sich lohnt, Geld auszugeben, nur um ihm beim Training zuzuschauen. Sagt Alex Ferguson. Cantona dankt es ihm, klappt seinen Kragen hoch und schießt United in der Saison 1992/93 zur ersten Meisterschaft seit 1967. „Ohhh, Ahhh Cantonaaa!“ brüllen die Massen im Old Trafford und im Mund von Alex Ferguson schlägt das Kaugummi vor Freude Salto.
Jetzt kann nichts und niemand mehr das frisch zum Leben erweckte United aufhalten. Meisterschaft 1994, Meisterschaft 1996, Meisterschaft 1997, Meisterschaft 1999. David Beckham, Scholes und all die anderen blutjungen Eigenkreationen von Nachwuchsleiter und United-Legende Nobby Stiles geben ihr Debüt. Von Nottingham Forest kommt Roy Keane nach Manchester, er wird Fergusons wichtigster Spieler. „Fergie“ wie ihn die britische Presse inzwischen getauft hat, sitzt Ende der Neunziger so fest im Sattel wie Lucky Luke. Über seinem Schreibtisch im Trainerbüro hängt noch immer die buchstäbliche Erinnerung an die alten Glasgower Zeiten, im Mund rotiert das bedauernswerte Kaugummi. Weil Manchester so mächtig und sein Trainer noch mächtiger erscheint, gibt es im englischen Fußball bereits die Bezeichnung „Fergie-Time“. Ferguson, so heißt es, sei allein durch seinen Willen in der Lage, den Schiedsrichter am Abpfiff zu hindern, um seiner Mannschaft so die möglicherweise rettenden Minuten zu verschaffen.
Barcelona, 22.30 Uhr und 30 Sekunden: Fergie-Time
Barcelona, 26. Mai 1999. 22.30 Uhr und genau 30 Sekunden. Fergie-Time. Für den FC Bayern die Mutter aller Niederlagen, für Manchester United und Alex Ferguson der Triumph ihres Lebens. 2:1 gewinnt der Meister aus England und alles, wirklich alles, was an diesem magischen Abend in Barcelona passiert, haben die Fans von Manchester United ihrem Trainer zu verdanken. Den filigranen Eckentreter David Beckham, der später im Streit Richtung Real Madrid abgeschoben werden wird. Dribbelkönig Ryan Giggs, den der Boss auf seine ganz eigene Art und Weise daran gehindert hatte, zu einem Popstar im Popstar-süchtigen England zu werden: Als sich Giggs mit 17 einen schicken Sportwagen kaufen wollte, untersagte Ferguson das Geschäft – und schenkte Giggs ein Fahrrad. Das unglaubliche Stürmerduo Dwight Yorke und Andy Cole – zwei Puzzlestücke, die scheinbar Zeit ihres Lebens darauf gewartet hatten, von ihm, Alex Ferguson, zusammen gesetzt zu werden. Oder Ole Gunnar Solksjae, der Torschütze zum 2:1 in der dritten Minute der Nachspielzeit. Kein anderer Trainer der Welt hätte sich erlauben können, diesen hochbegabten Mann nur auf die Bank zu setzen. Ferguson schon. Als Schiedsrichter Pierluigi Collina das Spiel abpfeift, liegen sich Edeljoker und Cheftrainer selig grinsend in den Armen.
Barcelona 1999, sicherlich der Höhepunkt in 25 Jahren Partnerschaft zwischen Alex Ferguson und dem Klub, den er einst Kaugummi kauend aus seiner Lethargie wach getreten hatte. So ein Spiel gibt es halt nur einmal in 100 Jahren. Und so lange trainiert auch ein Alex Ferguson nicht.
„We´ve decided you´re not retiring“
Dass er an diesem Wochenende wohl im Sekundentakt Hände schütteln wird, hätte sich Ferguson noch vor knapp zehn Jahren wohl nicht vorstellen können. Damals, am Neujahrstag 2002, hatte sich der von Erfolgen gesättigt, und der harten Arbeit als Trainer aufgeriebene „Alec“ eigentlich für den Abschied bei United entschieden. Wenn da nicht plötzlich am ersten Morgen des neuen Jahres Gattin Cathy samt den drei Söhnen vor dem Bett gestanden hätte. „We´ve decided you´re not retiring“, sagen sie. Wir haben uns dafür entschieden, dass du nicht aufhörst! Was soll man da schon sagen? Ferguson machte weiter, Ehefrau Cathy konnte aufatmen: „Wenn er nur zu Hause rumhängt, geht er mir irgendwann auf den Geist.“
Nun darf also doch gefeiert werden. Ein Vierteljahrhundert Alex Ferguson. Ein von der Queen zum Ritter geschlagener Haudegen aus Govan. Ein Fußball-Maniac. Einer der Besten seines Berufs. Der größte Liebhaber, den Manchester United je hatte. Ein Querulant. Ein Choleriker, den seine Untergebenen „den Föhn“ getauft haben, weil allein seine lautstarken Halbzeitansprachen jeden nassen Lockenkopf furztrocken brüllen können. Ein Despot, von dem Gary Neville sagt: „Die ersten sechs Monate kontrolliert er dich, in dem er dir Angst macht.“ Eine Vaterfigur, von der Gary Neville sagt: „Aber aus Angst wird bald Respekt.“ Ein Medienhasser, der einst, als ihn die Chefredakteure der großen britischen Zeitungen nach einem gemeinsamen Abendessen fragten, wie man die Zusammenarbeit in Zukunft wieder besser gestalten könne, gesagt haben soll: „Sie können versuchen zu sterben.“ Ein Titeljäger. Der beste Trainer der Welt.
Und der Besitzer des ganz sicher erfolgreichsten Kaugummis aller Zeiten…