Am letzten Wochenende hatte ich Besuch von meinem alten Freund Schnellessen und seinem sechsjährigen Sohn. Das Kind ist väterlicherseits von klein auf ermuntert worden, sein Herz dem Fußballsport zu öffnen, und die Erziehung hat offensichtlich Früchte getragen. Schon im letzten Jahr verblüffte der Junge mit dem komplexen Gemälde einer Stadionszene, die er mir zum Geburtstag schenkte – mit jubelnden Massen, Flutlichtmasten, Schiedsrichter und allem Pipapo. Und als er jetzt mit seinem Vater in meiner Wohnung saß, präsentierte er sich als vielseitig interessierter Fußballanhänger, der über alles reden wollte, was die deutsche Öffentlichkeit so bewegt: der mediokre Saisonstart des deutschen Meisters aus Dortmund, die erfolglose Trainersuche des HSV oder der Fall des der Brandstiftung verdächtigten Breno.
Nun will ich das Kind um Himmels Willen nicht heroisieren, das ständige Intonieren des an Körperverletzung grenzenden Songs „FC Bayern – Stern des Südens“ durch den jungen Bayern-Anhänger konnte einem schon massiv auf die Nüsse gehen, und nicht alle seine Expertisen („Der Neuer lässt in dieser Saison kein Tor mehr durch“) waren durch und durch seriös. Dennoch war es faszinierend zu beobachten, wie er in die für ihn noch neue und aufregende Fußballwelt eintauchte.
„Pass mal auf, dass der nicht ab morgen Hertha-Fan ist“
So konnte er über Stunden vor meinem uralten Tischfußballspiel „Kickoff“ sitzen – dieses Ding, wo die Spieler mit Spiralfedern im Boden versenkt sind – und die gelben Dortmunder gegen die roten Bayern spielen lassen. Sein Vater und ich genehmigten uns derweil ein Bier in der Küche und hörten von nebenan die nimmermüde Stimme des Kommentators: „Kehl. Großkreutz. Barrios. Gehalten! Konter über Rafinha. Auf Ribery. Tor!“
Am nächsten Tag sind wir mit ihm ins Olympiastadion gegangen, Hertha gegen Köln. Wir saßen direkt neben der Hertha-Fankurve, und fast jedes Mal, wenn ich zu ihm herüber blickte, schaute er nicht aufs Spielfeld, sondern mit glänzenden Augen zur auf und ab wogenden Menge der blau-weißen Anhänger. Irgendwann stieg er auf seinen Schalensitz und hüpfte und klatschte im Takt des Fanblocks. „Pass mal auf, dass der nicht ab morgen Hertha-Fan ist“, sagte ich zu Schnellessen, der aber mit der Gelassenheit des erfolgsverwöhnten Bayern-Fans nur müde den Kopf schüttelte. Wahrscheinlich hatte er Recht, das Kind genoss einfach bloß den Moment und die Atmosphäre, anders als wir zynischen alten Säcke, die schon alles gesehen haben und die Dinge stets bewerten, vergleichen und relativieren müssen.
Seine heile Fußballwelt bekam erste Risse
Später in der U‑Bahn war Hertha schon wieder Schnee von gestern. Stattdessen tippte er mich an und sagte: „Der Breno macht so was nicht.“ – „Wer weiß, Junge, wer weiß“, antwortete ich. „Du kannst nicht hinter die Fassade eines Menschen blicken.“ Möglicherweise hat seine heile Fußballwelt in diesem Augenblick erste Risse bekommen, quasi das Ende der Unschuld. Jedenfalls wirkte er für den Rest der Fahrt ziemlich nachdenklich, und als ich einige Tage später mit Schnellessen telefonierte und nach dem Jungen fragte, bekam ich zur Antwort: „Der sitzt mit seinen Legosteinen im Wohnzimmer und baut ein Gefängnis für Breno.“
Seitdem habe ich ein schlechtes Gewissen.