Lothar Buchmann, werden Sie am Samstag auch mal wieder zum Böllenfalltor fahren?
Wie es aussieht, werde ich nicht hin fahren können. Da ich selber noch als Trainer in der A‑Klasse tätig bin, fehlt mir leider die Zeit.
Gehen Sie überhaupt noch zu Spielen von Darmstadt 98?
Ich fahre schon noch ab und zu ins Stadion und gucke mir die Spiele an. Ich kenne Gerhard Kleppinger und ein paar andere Verantwortliche aus meiner Zeit in Darmstadt noch sehr gut. Die Entwicklung des Vereins beobachte ich natürlich ganz genau.
Der Verein versucht am Samstag, einen Zuschauerrekord zu brechen. Außerdem gibt es viele Aktionen, die Einnahmen generieren sollen, um die drohenden Insolvenz abzuwenden. Merken Sie momentan so etwas wie Aufbruchstimmung in Ihrem Umfeld?
Heute habe ich gelesen, dass bisher 7.000 Karten verkauft wurden. Das ist gemessen an der Zahl, die sie erreichen wollen, noch zu wenig. Leider scheint das Wetter auch nicht richtig mitzuspielen. Ich glaube also nicht, dass sie den Rekord wirklich erreichen werden. Das ist sehr schade. Aber wenn man 7.000 Karten für ein Spiel der Lilien verkauft hat, dann ist das schon so etwas wie Aufbruchstimmung. Eine gewisse Euphorie bemerke ich auch in meinem Umfeld.
Der Verein befindet sich seit Jahrzehnten auf dem Sinkflug. Wo wurden Ihrer Meinung nach die größten Fehler gemacht?
Es ist immer schlecht, wenn man viel erreichen will und der Erfolg ausbleibt. Das erlebt man ja auch gerade in Leipzig und oder vor Jahren in Dortmund. Diejenigen, die sich um die finanziellen Dinge kümmern, hängen immer zwischen den Stühlen. Denn nur wenn es sportlich nach oben geht, dann kommen genug Zuschauer, um finanziell voran zu kommen. Die sportliche Leistung kann aber nur stimmen, wenn die richtigen Spieler da sind. Und da hat man sich ganz einfach übernommen. Es gab im Kader immer wieder Fehleinschätzungen und der sportliche Erfolg blieb aus. So geriet der Verein immer weiter in Schieflage.
Man hätte also frühzeitig die Notbremse ziehen müssen?
Es ist, als sitzt man in der Spielbank am Roulettetisch und verliert seinen halben Lohn. Anstatt aufzuhören, meint man, man müsse noch einmal alles auf Rot setzen – und noch einmal und noch einmal. Irgendwann ist dann alles weg. Finanzfachleute sind nun mal keine Fußballexperten. Die Situation wurde mehrfach falsch eingeschätzt, und so ging Spirale immer weiter nach unten. Mittlerweile ist sie ja sogar nach unten offen. Irgendwann ist das nicht mehr zu kippen. Ich würde nie eine Einzelperson für den Abstieg der Lilien verantwortlich machen. Die gesamten Führungsebene, die über die Jahre das Sagen hatten, ist im Kollektiv einer enormen Fehleinschätzung unterlegen. Jetzt stehen alle vor einem riesigen Schuldenberg.
Sie stiegen in der Saison 1977/78 mit Darmstadt unter besonderen Bedingungen in die Bundesliga auf. Die Mannschaft ging als „Feierabendfußballer“ in die Geschichte ein. Wie muss man sich Ihren Alltag damals vorstellen?
Unser Alltag bestand hauptsächlich aus Fußball (lacht). Ich selbst war Verwaltungsbeamter in Heppenheim und war nicht bereit, hauptberuflich als Trainer zu arbeiten. Nach einem Jahr stellte sich heraus, dass alle Mannschaften, die eigentlich aufsteigen wollten, hinter uns standen. Wir sahen die Möglichkeit, in die erste Liga zu kommen, und haben etwas umgestellt. Das Training haben wir beispielsweise auf 15.30 Uhr vorgezogen. Alle Spieler bekamen bei ihrer Arbeit frei, und wir mussten nur eine Stunde Lohnausfall bezahlen. Anders hätte sich das auch der Verein nicht leisten können. Mir war vor allem wichtig, dass die Spieler um 18.30 Uhr zu Hause waren und noch Zeit für ihre Familien hatten.
Wissen sie noch, welchen Berufen die Spieler nachgegangen sind?
Wir waren ein bunt gemischte Truppe. Da war vom Metzger bis zum Ingenieur alles dabei. Viele haben sich auf dem zweiten Bildungsweg in gute Positionen hochgearbeitet. Die waren natürlich nicht bereit, als Vollprofi ihre Existenz zu riskieren. Walter Bechtold kam einmal auf mich zu und sagte: „Trainer, ich bin 30. Ich kann nicht auf Vollprofi umsatteln. Ich finde nie wieder einen Job, wenn wir absteigen.“
Und plötzlich wurde es dann ernst mit dem Aufstieg…
Zu diesem Zeitpunkt wurde die Sache zum Selbstläufer. Wir haben allen Spielern garantiert, dass sie auch in der Bundesliga bleiben können. Das war gut für unseren Zusammenhalt. Und auch nach dem Aufstieg haben wir mit diesem Konzept weiter gemacht. Uns war klar, dass das auf Dauer nicht gut gehen konnte. Aber eins haben wir nicht riskiert: Uns oder den Verein zu ruinieren. Jahre später wurden die Spieler dann zu Vollprofis gemacht. Rückblickend kam dieser Umschwung wohl zu schnell. Der Verein geriet immer mehr ins Rutschen.
Der Aufstieg der Lilien war eine Sensation. Was war damals los auf der Meisterfeier?
So eine Feier habe ich nie wieder erlebt. Das war der absolute Wahnsinn. Da war alles dabei, bis zum Autokorso durch Darmstadt. An dem Tag habe ich sogar eine geraucht (lacht). Unser Aufstieg war ja nach unserem 6:1‑Auswärtsieg in Pirmasens so gut wie besiegelt. Die Rückfahrt war unbeschreiblich. Wir haben an jeder Raststätte Halt gemacht. Dann sind alle raus und in einer einzigen Dauerpolonäse durch die Tankstellen. Die Leute haben uns nur komisch angeguckt. Die hatten ja keine Ahnung, wer wir sind und was wir feierten. Es ging hoch her. Das war wie Krieg, nur im positiven Sinn. Ich bin oft aufgestiegen, habe sogar mit dem VfB Stuttgart den DFB-Pokal geholt, aber diese Aufstiegsfeier, die war einmalig.
Sie waren dann Ende der Neunziger noch einmal Trainer in Darmstadt. Der Verein stieg in die Viertklassigkeit ab. Was waren rückblickend die größten Fehler, die damals gemacht wurden?
Die Probleme lagen wieder im Geldbeutel. Ich habe den Verein in der ersten Saison auf dem letzten Platz übernommen. Am letzten Spieltag brauchten wir einen Punkt und haben durch ein 0:0 gegen Augsburg noch den Klassenerhalt geschafft. In dem Spiel habe ich bestimmt 1000 Mal auf die Uhr geschaut, aber am Ende hat es dann gereicht. Nach der Saison mussten wir, wegen erneuter finanzieller Probleme, wichtige Spieler verkaufen. Dieser Aderlass hat uns dann das Genick gebrochen.
Die Fanszene in Darmstadt gilt als sehr aktiv und kritisch. Als im Jahr 2006 der Verein komplett umgekrempelt wurde und dennoch der Erfolg ausblieb, gingen die Zuschauer auf die Barrikaden. Haben Sie die Fans während Ihrer Arbeit in Darmstadt auch zu spüren bekommen?
Ein Zuschauer fühlt sich immer falsch behandelt, wenn er nicht weiß, was in seinem Verein los ist. In Darmstadt gibt es schon Gruppierungen, die sehr vehement und auch emotional denken und handeln. Aber für mich sind das die echten Fans. Wenn die merken, dass bestimmte Personen negativ im Sinne der Lilien arbeiten, dann drücken sie das mit eben jener Emotionalität aus. Das habe ich natürlich auch mitbekommen.
Ihr damaliger Co-Trainer war Klaus Schlappner. Haben Sie zum ihm heute noch Kontakt?
Das ist weniger geworden. Nach zwölf gemeinsamen Jahren haben sich unsere Wege in Mannheim getrennt. Jeder ist seinen eigenen Weg gegangen. So ist das im Leben oder in einer guten Ehe, man lebt sich früher oder später auseinander (lacht).
Seit einigen Jahren ist ihr ehemaliger Spieler Gerhard Kleppinger Trainer in Darmstadt. Trauen Sie den Lilien den Weg zurück auf die Erfolgsspur zu?
Erst einmal muss die drohenden Insolvenz abgewendet werden, sonst kommt es zum Zwangsabstieg. Das wird schwierig genug. Ich weiß nicht, wie die handelnden Personen das stemmen wollen. Sportlich wird es ohnehin schwer, die Regionalliga wieder zu verlassen. Die wenigen Talente die Darmstadt in den letzten Jahren hervorgebracht hat, sind sofort weggegangen und ich weiß nicht, ob genug fähige Leute aus der Jugend nachrücken werden. Es wird auf jeden Fall eine Menge Arbeit.